Die Memoiren des Sherlock Holmes Bd. 2
Stimme.
»Oh, das Geheimnis!« antwortete er und fand mit einem Ruck zu den Realitäten des Lebens zurück. »Nun, es wäre wohl absurd, zu leugnen, daß der Fall sehr dunkel und verzwickt ist; aber ich verspreche Ihnen, ich werde mich mit der Angelegenheit beschäftigen und Sie wissen lassen, wenn mir etwas auffallen sollte.«
»Sehen Sie schon irgendeine Spur?«
»Sie haben mich mit deren sieben ausgestattet, aber natürlich muß ich sie erst prüfen, ehe ich etwas über ihren Wert sagen kann.«
»Verdächtigen Sie jemanden?«
»Ich verdächtige mich selbst…«
»Wie bitte?«
»Daß ich zu schnell zu Schlüssen komme.«
»Dann fahren Sie nach London und überprüfen Sie Ihre Schlüsse.«
»Ihr Rat ist ausgezeichnet, Miss Harrison«, sagte Holmes und erhob sich. »Ich glaube, Watson, wir können nichts Besseres tun. Wiegen Sie sich aber nicht in falschen Hoffnungen, Mr. Phelps. Die Affäre ist sehr verworren.«
»Ich fiebere unserem Wiedersehen entgegen«, sagte der Diplomat.
»Nun, ich komme morgen mit dem gleichen Zug, auch wenn ich Ihnen höchstwahrscheinlich einen negativen Bericht bringen muß.«
»Gott segne Sie für Ihr Versprechen, zu kommen«, rief unser Klient. »Der Gedanke, daß etwas getan wird, gibt mir wieder Leben. Übrigens habe ich einen Brief von Lord Holdhurst bekommen.«
»Ha! Was hat er gesagt?«
»Er war kühl, aber nicht streng. Ich nehme an, der Umstand, daß ich ernstlich krank bin, hat ihn zurückgehalten. Er wiederholte, daß die Sache sehr schwerwiegend sei, und fügte hinzu, es würden keine Schritte in bezug auf meine Zukunft – damit meinte er natürlich meine Entlassung – unternommen werden, bis meine Gesundheit wiederhergestellt sei und man mir Gelegenheit gegeben hätte, mein Mißgeschick wiedergutzumachen.«
»Nun, das ist vernünftig und rücksichtsvoll«, sagte Holmes. »Kommen Sie, Watson, wir haben in der Stadt ein schönes Stück Arbeit vor uns.«
Mr. Joseph Harrison fuhr uns zum Bahnhof, und bald eilten wir in einem Zug dahin, dessen Bestimmungsbahnhof Portsmouth war. Holmes saß in tiefes Nachdenken versunken und machte kaum einmal den Mund auf. Erst als wir Clapham Junction passiert hatten, bemerkte er: »Nach London auf einer dieser Linien einzufahren, die so hoch liegen und von denen man einen solchen Blick auf die Häuser hat, ist eine erfreuliche Sache.«
Ich dachte, er scherzte, denn die Aussicht war doch reichlich trübe. Aber bald erklärte er, was er meinte.
»Schauen Sie sich doch nur diese großen, freistehenden Gebäude an, die die Schieferdächer überragen, wie Inseln aus Ziegelstein in einem bleifarbenen Meer.«
»Die Board Schools.«
»Leuchttürme, mein Junge! Fanale der Zukunft! Fruchtkapseln mit Hunderten intelligenten Samenkörnern, aus denen das weisere, bessere England der Zukunft sprießen wird. Ich nehme an, Phelps trinkt nicht.«
»Ich glaube, so ist es.«
»Ich auch. Aber wir müssen jede Möglichkeit in Betracht ziehen. Der arme Teufel hat sich ganz schön tief in den Schlamassel geritten, und es ist noch die Frage, ob wir ihn je da herausziehen können. Wie denken Sie über Miss Harrison?«
»Ein Mädchen mit eigenwilligem Charakter.«
»Ja, und sie gehört, wenn ich mich nicht täusche, zu der guten Sorte. Sie und ihr Bruder sind die einzigen Kinder eines Eisenhüttenbesitzers aus der Gegend von Northumberland. Phelps hat sich auf einer Reise im letzten Winter mit ihr verlobt, und sie machte sich in Begleitung ihres Bruders auf den Weg, um der Familie vorgestellt zu werden. Dann kam der Zusammenbruch; sie blieb, um ihren Bräutigam zu pflegen, und ihr Bruder fand es behaglich und blieb auch. Sie merken, ich habe ein paar Erkundigungen eingezogen. Auch der heutige Tag muß Erkundigungen vorbehalten bleiben.«
»Meine Praxis…«, begann ich.
»Oh, wenn Sie Ihre Fälle interessanter finden als meine…«, sagte Holmes ziemlich scharf.
»Ich wollte nur erklären, daß meine Praxis ein paar Tage ohne mich auskommen kann, jetzt, in der flauesten Zeit des Jahres.«
»Hervorragend«, sagte er; seine gute Laune war sofort zurückgekehrt. »Also werden wir uns der Sache gemeinsam widmen. Ich denke, wir sollten damit anfangen, daß wir Forbes einen Besuch abstatten. Er kann uns wahrscheinlich mit allen Einzelheiten, die wir brauchen, bekannt machen; dann wissen wir, von welcher Seite her wir den Fall angehen
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