Die Memoiren des Sherlock Holmes Bd. 2
das ist dein berühmter Freund, Mr. Sherlock Holmes.«
Ich stellte Holmes mit wenigen Worten vor, dann nahmen wir beide Platz. Der korpulente jun ge Mann hatte den Raum verlassen, aber seine Schwester war geblieben, ihre Hand in der des Kranken. Sie bot einen überraschenden Anblick, war ein wenig zu klein und zu dick, um sie wohlproportioniert zu nennen, aber sie besaß einen wunderschönen olivfarbenen Teint, große, dunkle, italienische Augen und reiches tiefschwarzes Haar. Ihre vollen Farben ließen das weiße Gesicht ihres Gefährten noch erschöpfter und abgehärmter erscheinen.
»Ich will Ihre Zeit nicht vergeuden«, sagte er, indem er sich auf dem Sofa hochsetzte. »Ich werde ohne Einleitung gleich zur Sache kommen. Ich war ein glücklicher und erfolgreicher Mann, Mr. Holmes, und stand vor meiner Vermählung, als plötzlich ein fürchterliches Unglück geschah, das meine ganze Zukunft zerstörte.
Ich arbeitete, wie Watson Ihnen vielleicht schon berichtet hat, im Außenministerium, und dank dem Einfluß meines Onkels, Lord Holdhurst, stieg ich schnell in eine verantwortliche Stellung auf. Als mein Onkel Außenminister wurde, übertrug er mir einige vertrauliche Missionen, und ich brachte sie zum erfolgreichen Abschluß, so daß er schließlich meine Fähigkeiten und mein Geschick sehr hoch einschätzte.
Vor fast zehn Wochen – um ganz genau zu sein: am 23. Mai – ließ er mich in sein Zimmer rufen und teilte mir mit, nachdem er mich zu der guten Arbeit, die ich leistete, beglückwünscht hatte, daß er einen neuen vertraulichen Auftrag für mich habe. ›Das hier‹, sagte er und nahm eine graue Papierrolle aus dem Schreibtisch, ›ist das Original eines geheimen Abkommens zwischen England und Italien, über das bedauerlicherweise bereits einige Gerüchte in der Presse umlaufen. Es ist von höchster Wichtigkeit, daß nichts mehr durchsickert. Die französische oder die russische Botschaft würden eine ungeheuer große Summe zahlen, um den Inhalt dieser Papiere kennenzulernen. Ich würde sie nicht aus meinem Schreibtisch weggeben, wenn es nicht unbedingt notwendig wäre, sie kopieren zu lassen. Hast du ein Schreibpult im Büro?‹
›Ja, Sir.‹
›Dann nimm das Abkommen und verschließe es dort. Ich werde Anweisung geben, daß du über Dienstschluß hinaus bleiben darfst und die Papiere in Ruhe abschreiben kannst, ohne Gefahr zu laufen, beobachtet zu werden. Wenn du fertig bist, verschließ das Original und die Abschrift im Pult und übergib mir morgen früh beides.‹
Ich nahm die Papiere entgegen und…«
»Entschuldigen Sie«, unterbrach Holmes. »Waren Sie während der Unterhaltung allein?«
»Absolut.«
»In einem großen Zimmer?«
»Dreißig Fuß im Quadrat.«
»In der Mitte des Zimmers?«
»Ja, ungefähr.«
»Wurde leise gesprochen?«
»Die Stimme meines Onkels ist immer auffallend leise. Ich habe kaum etwas gesagt.«
»Vielen Dank«, sagte Holmes und schloß die Augen. »Fahren Sie bitte fort.«
»Ich tat genau, wie er angewiesen hatte, und wartete, bis die anderen Angestellten gegangen waren. Einer von ihnen, Charles Gorot, der mit mir im selben Raum sitzt, mußte einige Rückstände aufarbeiten. Ich ließ ihn allein und ging zum Dinner. Als ich zurückkehrte, war er fort. Ich beeilte mich mit meiner Arbeit, denn ich wußte, daß Joseph – Mr. Harrison, Sie haben ihn eben kennengelernt – in der Stadt war und mit dem ElfUhr-Zug nach Woking fahren wollte, und ich hätte mich ihm gern angeschlossen.
Als ich mir das Abkommen ansah, erkannte ich sofort, daß es sehr bedeutend war und mein Onkel mit dem, was er sagte, nicht übertrieben hatte. Ohne ins Detail zu gehen, kann ich nur versichern, daß es die Stellung Großbritanniens zum Dreibund bestimmt und die Politik unseres Landes in bezug auf die französischen Bemühungen, das Übergewicht über die italienische Flotte im Mittelmeer zu erlangen, festlegt. Die im Vertrag behandelten Fragen betreffen ausschließlich die Marine. Am Schluß standen die Unterschriften der hohen Politiker. Ich überflog also das Dokument und machte mich dann an die Abschrift.
Es war lang, in französischer Sprache abgefaßt und enthielt sechsundzwanzig Artikel. Ich schrieb so schnell, wie ich konnte, hatte aber um neun Uhr erst neun Artikel fertig, und die Vorstellung, meinen Zug noch zu bekommen, schien mir eine hoffnungslose Sache zu werden. Ich war schläfrig und wie
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