Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Titel: Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
reglos am Boden ausgestreckt und gab kein Lebenszeichen von sich. Ihre Spiegelaugen standen offen. Sie starrten in Merles kleinen Handspiegel, der vor ihr im Geröll zum Liegen gekommen war.
    Merle bückte sich nach dem Spiegel und der Kralle und schob beide in ihr Kleid, dann rannte sie los, sprang über Geröll und Spalten, tauchte schließlich unter dem Überhang auf. Sie schwenkte beide Arme, brüllte Vermithrax’ Namen, so laut sie nur konnte, und sah nach wenigen Sekunden, wie sich das Licht auf sie zubewegte. Der Obsidianlöwe schoss aus der Dunkelheit herab. Sein Schein erhellte ihre Umgebung, schuf Schatten hinter kantigen Trümmer stücken.
    »Wo ist das Mädchen?«, fragte er, als er sich neben ihr niederließ.
    »Warte!« Merle stürmte zurück unter den Vorsprung und kam einen Moment später mit Junipa zurück, trug sie wie ein Kind auf beiden Armen, mit rasselndem Atem und schmerzendem Kreuz. Junipa bewegte die Lippen, aber Merle verstand nicht, was sie sagte.
    »Wir müssen sie mitnehmen.« Sie wollte noch etwas sagen, aber jetzt öffnete sich ihr Mund ohne ihr Zutun, als die Königin sich seiner bemächtigte. »Sie gehört zu Lord Licht! Sie hat uns verraten!« Merle hätte brüllen mögen vor Wut, aber nicht einmal das konnte sie, solange die Königin ihre Zunge kontrollierte. Sie nahm all ihren Willen zusammen, ballte ihren Zorn wie eine Faust - und entledigte sich seiner mit einem wilden Aufschrei.
    Sie spürte das Erstaunen der Königin. Ihre tiefe Verunsicherung. Spürte, wie sie sich zurückzog, tiefer in ihr Inneres, erschrocken über Merles plötzliche Willensstärke.
    Tu das nie wieder!, dachte Merle wütend. Niemals wieder!
    Und sie dachte: Wir haben ihn nicht einmal gefragt… Nach der Hilfe für Venedig, für Serafin und Junipa und all die anderen… Nicht einmal gefragt. In Wahrheit hast du das auch nie vorgehabt, nicht wahr? Du wolltest Gewissheit haben. Deshalb sind wir hier heruntergekommen. Ging es dir um Burbridge? Oder das Steinerne Licht? Nein, dachte sie eisig: Im Grunde ging es dir immer nur um dich.
    Hohn und ein tiefes Verletztsein waren plötzlich ihre einzigen Empfindungen. Und zugleich erkannte sie, dass das Geheimnis um die Fließende Königin viel größer, viel unbegreiflicher war, als sie in diesem Augenblick erfassen konnte.
    Die Königin schwieg, und Vermithrax ließ verwundert zu, dass Merle Junipa auf seinen Rücken lud. Dann setzte sie sich selbst dahinter, klemmte die leblose Junipa rückwärts zwischen sich und dem Hals des Löwen ein, krallte ihre Hände in Vermithrax’ Mähne und gab ihm das Zeichen aufzusteigen.
    Der Obsidianlöwe erhob sich mit einem kräftigen Schlag seiner steinernen Schwingen und flog der Öffnung entgegen.
    Junipas Lippen bewegten sich immer heftiger, aber Merle wagte nicht, ihr Ohr näher an das Gesicht des Mädchens zu bringen, aus Sorge, es könnte ein Trick sein, zu dem Burbridge sie zwang.
    Aber dann, ganz kurz, glaubte sie doch, etwas zu verstehen, das wie ein Wort klang. Eines, das so gar nicht hierher gehörte.
    »Großvater«, sagte Junipa.
    Und dann, deutlicher: »Er ist dein Großvater.«
    Merle versteifte sich.
    »Ist er nicht«, sagte die Königin. »Sie lügt. Er lügt.«
    Junipas Lider öffneten sich langsam, und in den Spiegelaugen sah Merle sich selbst, von unten angestrahlt vom Licht des Löwen, weiß wie ein Gespenst.
    Junipas Züge erschlafften, nur ihre Augen blieben offen, schauten durch Merle, die Schatten, die Welt hindurch. Irgendwohin, ins Land der Lüge, Land der Wahrheit.
    »Großvater«, murmelte Merle.
    »Tu das nicht! Das ist genau das, was er bezweckt. Burbridge benutzt sie nur, er erfindet Lügen, um dich zu schwächen.«
    Merle starrte einen Moment länger in die Spiegelaugen, auf ihre beiden weißen Ebenbilder, dann gab sie sich einen Ruck.
    »Es würde nichts ändern«, sagte sie, aber in ihrem Kopf schwirrten die Gedanken wie ein Hornissenschwarm. »Großvater oder nicht, er trägt die Schuld an dem, was mit Junipa passiert ist… und an allem anderen.«
    Die Königin musste spüren, was in ihr vorging, aber sie hielt sich zurück und schwieg.
    Vermithrax hatte die halb zerstörte Balustrade fast erreicht, als Merle einen Gedanken laut aussprach: »Warum kann er Junipa kontrollieren, aber Vermithrax nicht? Vermithrax hat viel mehr vom Steinernen Licht in sich als sie.«
    Der Löwe senkte sich auf das zerbrochene Steinsims, unweit der Öffnung nach draußen. Eine Schneewehe war hereingetrieben und lief

Weitere Kostenlose Bücher