Liebe im Zeichen des Nordlichts
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Kapitel 1
A n einem regnerischen Montagmorgen mitten im Herbst betrat Bruno Boylan zum ersten Mal das Land seiner Vorfahren – endlich.
Er war mit einem Rückflugticket für vierhundert Dollar unterwegs, das er erst wenige Tage zuvor bequem von zu Hause aus erworben hatte. Nur ein paar Mausklicks und eine sechzehnstellige Kreditkartennummer waren nötig gewesen. Eigentlich war es gar kein richtiges Ticket, sondern eine ausgedruckte E-Mail mit einem Zaubercode. Keine Verzögerungen, keine Zwischenlandungen, keine widrigen Wetterverhältnisse. Er war wach geblieben, bis die Stewardess mit dem Getränkewagen und dem Essen kam, und hatte anschließend noch ein wenig in seinem Buch gelesen. Dann hatte er eine Xanax eingeworfen, was die Flugzeit im Nu drastisch verkürzte. Er hatte nur wenig Gepäck bei sich, nichts weiter als einen kleinen Rucksack und eine Reisetasche im Frachtraum. Keinerlei Hinweis darauf, dass es sich um eine Reise von historischer Bedeutung handelte.
Er wurde vom Signal der Bordsprechanlage geweckt. Als er die Augen aufschlug, stellte er fest, dass er kläglich zusammengekrümmt an der Flugzeugwand lehnte und sein Gesicht am Fensterrollo platt drückte. Also richtete er sich mühsam auf und presste seinen Kopf an die Kopfstütze. Mit geschlossenen Augen saß er da, reglos, und wartete darauf, dass eine Stimme erklang.
Allmählich wurde er sich seiner körperlichen Missempfindungen bewusst. Sein Rücken schmerzte, und seine Knie waren so verkrampft, dass sie knackten, als er sie auszustrecken versuchte. Außerdem tat ihm vom langen Sitzen der Hintern weh, und er musste pinkeln. Um ihn herum waren verschiedene Reiseutensilien verstreut. Eine dünne Decke lag über seinen Knien, der verhedderte Kopfhörer auf seinem Schoß. Das Buch hatte sich irgendwo unter ihm verkeilt, doch sein Körper war so taub, dass er es nicht einmal spürte. Seine Schuhe waren unter dem Sitz verschwunden. Bald würde er sie suchen und seine Füße hineinzwängen müssen. Er gestattete sich noch einen Moment lang den Luxus, den Teppichboden durch die Socken zu fühlen.
Wieder ein Signal, und die Stimme des Piloten hallte durch die Kabine. Bruno konnte nur Wortfetzen verstehen, sich den Inhalt der Durchsage allerdings denken, indem er die Lücken füllte. Bald würde der Landeanflug beginnen. Etwas über das Wetter in Dublin, das Bruno rätselhaft blieb. Er schob das Rollo hoch und hatte eine dicke weiße Wolke vor sich. Sonst sah er nur die eigenartig reglose Tragfläche des Flugzeugs.
Er wandte sich dem kleinen blauen Bildschirm auf der Rückseite seines Vordersitzes zu und blickte auf eine bewegliche Karte, die nichts als die groben Umrisse der amerikanischen Ostküste, den gewaltigen Atlantik und in der oberen rechten Ecke die Silhouetten von Irland und England zeigte. Ein Bogen zeichnete die Flugroute nach. Das Flugzeugsymbol befand sich inzwischen beinahe über Irland. Es war nicht maßstabsgetreu, so dass es fast das gesamte Land abdeckte.
In Bruno schaltete etwas um. Eine plötzliche Panik ergriff ihn, ein kurzes, mulmiges Gefühl, dass er sich besser auf die Ankunft hätte vorbereiten sollen. Er war noch nicht so weit. Er hätte nicht schlafen, sondern die ganze Zeit über wach bleiben und die Reise bewusst erleben sollen. Ihm fiel eine Geschichte ein, die er einmal gehört hatte: Indianer blieben nach der Landung erst einmal am Flughafen sitzen, um ihrer Seele die Gelegenheit zu geben, den Körper einzuholen. Plötzlich erschien Bruno diese Vorgehensweise sehr einleuchtend. Sein Körper hatte seine Seele abgehängt; es brauchte Zeit, damit sie wieder miteinander ins Lot kamen.
Der Bildschirm vor ihm änderte sich und zeigte nun eine Liste von Zahlen. Zeit bis zur Landung: 0 : 23 Minuten.
Diese Zeit musste er nutzen, um seine Gedanken zu ordnen.
Drei Wochen war es nun her, dass er seinen Arbeitsplatz verloren hatte. Drei Wochen, die ihm wie drei Jahre vorkamen. Oder drei Tage. Oder drei Stunden. Es war einfach absurd! Seitdem schien ein ganzes Leben vergangen zu sein. Und dennoch war alles noch frisch, die Wunde noch offen.
Noch einen Monat bis zur Wahl. Die Warterei war unerträglich. Man musste sich regelrecht einreden, dass die Zeit in derselben Geschwindigkeit wie immer verstrich. Bald würde der Tag da sein, an dem das Ergebnis feststand. Dennoch hielt er es vor Ungeduld kaum aus.
Und hier war Bruno nun, in der Luft schwebend zwischen zwei Punkten. 0 : 21 Minuten bis zur Landung. Er
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