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Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Titel: Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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unter sich genauer zu betrachten. Einmal, vor ein paar Jahren, hatte sie in den Gassen Venedigs einen Bettler gesehen, dessen gesamtes Gesicht von einem wuchernden, blumenkohlartigen Geschwür befallen war. Axis Mundi von oben erinnerte sie an genau diesen Anblick, an ein groteskes Gebilde aus Wucherungen, verschlungen und verdreht wie geschmolzenes Muskelgewebe.
    Und dann der Geruch.
    Ein Gewürzhändler hätte vielleicht Einzelheiten dieses scheußlichen Gemischs aus Düften aller Art erkennen können. Auf Merles Nase aber wirkte der Gestank wie ein Gift, das sich in ihre Schleimhäute ätzte.
    Der Blick über diese Stadt und die vage Vorstellung dessen, was dort unten leben mochte, war genug, sie in tiefe Hoffnungslosigkeit zu stürzen. Was hatten sie sich nur dabei gedacht, hierher zu kommen? Dass Lord Licht in einem goldenen Turm residieren und sie mit offenen Armen empfangen würde? Wie sollte sie hier Hilfe für ihre Stadt, für ihre Freunde finden?
    Dies hier also war die Hölle. Zumindest in Teilen entsprachen die Schrecken, die Professor Burbridge in seinen Berichten heraufbeschworen hatte, der Wahrheit. Und manches, daran hatte sie keinen Zweifel, war gewiss noch schlimmer.
    »Lass dir davon keine Angst machen«, sagte die Fließende Königin. »Mit alldem da unten haben wir nichts zu schaffen. Lord Licht ist es, der uns interessiert, nicht dieser Abschaum. «
    Er ist einer von ihnen, dachte Merle.
    » Möglicherweise. «
    Er wird uns nicht helfen.
    »Er hat es einmal angeboten, und er wird es wieder tun.«
    Merle schüttelte stumm den Kopf, ehe sie bemerkte, dass Winter sie abermals argwöhnisch ansah. Doch auch sie ließ schließlich keine Gelegenheit aus, ihn heimlich zu beobachten.
    »Ist das sein Palast?«, fragte sie.
    Winters Haar wurde vom Gegenwind aufgewirbelt wie eine Schneewehe. »Ich war nie hier. Ich weiß es nicht.«
    Die Steinschädel hielten weiterhin auf die monströse Kuppel zu, und jetzt bemerkte Merle, dass das gesamte Gebäude von innen heraus zu leuchten schien. Anders als die unterirdischen Lavastränge, die der ganzen Holle Licht spendeten, glühte die Kuppel ohne einen Gelb- oder Rotstich, vielmehr hell und matt zugleich.
    »Bevor du fragst - ich weiß nicht, was das für ein Licht ist«, sagte die Königin.
    Winters finstere Miene hatte sich aufgehellt. »Das könnte sie sein.«
    Merle sah ihn mit großen Augen an. »Wer? Sommer?«
    Er nickte.
    Die Königin stöhnte.
    Merle hatte einen eigenen Verdacht, was es mit dem Lichtschein auf sich haben mochte. Bis eben hatte sie sich noch keine Gedanken gemacht, weshalb Lord Licht überhaupt diesen Namen trug. Was, wenn es eher eine Beschreibung als ein Name war?
    »Tut mir Leid, wenn ich dich enttäuschen muss«, sagte die Königin rasch. »Der Herr der Hölle heißt schon in frühen Überlieferungen Luzifer, und das bedeutet in
    deiner Sprache nichts anderes als Lichtbringer. Lord Licht ist ein Name, den Menschen ihm gegeben haben. Ein ziemlich neuer noch dazu.«
    Lichtbringer, dachte sie. Jemand, der das Licht bringt - und es vielleicht sogar unter einer Kuppel einsperrt?
    Winters Verhalten änderte sich. Er brütete nicht länger still vor sich hin oder verwirrte Merle mit düsteren Andeutungen. Stattdessen lief er jetzt hinter der Brüstung auf und ab, warf immer wieder aufgeregte Blicke zur Kuppel hinüber und kaute auf seiner Unterlippe wie ein nervöser Junge. Merle grinste verstohlen. Und er behauptete, kein Mensch zu sein?
    Ein paar hundert Meter vor der Riesenkuppel schlugen die Herolde eine neue Richtung ein. Statt wie bisher geradewegs auf die Wölbung zuzufliegen, näherten sie sich nun einer verschachtelten Konstruktion aus Quadern und Türmen, die an der Seite der Kuppel emporwuchs. Merle fiel auf, dass alles hier, jedes Gebäude, sogar die riesige Kuppelwölbung, aus glattem Fels bestand. Nichts war gemauert und verfugt. Jede Erhebung innerhalb der Stadt sah aus wie gewachsen, als hätte man den Fels bearbeitet und gestreckt wie die Glasbläser auf der Insel Murano ihre Glasmasse; als besäße jemand die Macht, dem Fels einen fremden Willen aufzuzwingen.
    Die Herolde schwebten durch eine Öffnung, die Merle an das Maul eines Riesenfischs erinnerte. Im Vergleich zu diesem Tor wirkten die Steinschädel wie Kieselsteine. Jenseits der Öffnung befand sich eine weite Halle, auf deren Grund in mehreren Reihen ein gutes Dutzend der steinernen Herolde ruhte; sie sahen aus wie Überreste antiker Statuen im Lager eines

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