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Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Titel: Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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der sich schräg vor ihnen befand, tauchte in den Schatten der gigantischen Beine. Von oben konnte Merle die riesigen Füße am Boden sehen, mächtige Felsovale, um die herum sich die Marschrouten der Lilim schlängelten. Noch immer war sie nicht in der Lage auszumachen, wie die Wesen im Detail aussahen, zu eng war das Gewimmel, zu groß die Distanz. Die Herolde erhöhten merklich ihre Flugbahn, bis sie oberhalb der steinernen Knie der Kolosse schwebten. Merle verlor die Kolonnen tief unter sich aus den Augen und blickte stattdessen an den riesenhaften Körpern der Kämpfer empor. Von nahem hätten sie ebenso gut bizarre Felsformationen sein können, ihre Proportionen erschlossen sich nur aus der Ferne. Die steinernen Oberschenkel, zwischen denen die Herolde hindurchflogen, wurden zu grauen Wänden, zu groß, um ihren Anteil am Ganzen zu ermessen.
    Der Anblick raubte Merle den Atem. Der Gedanke, dass diese Größe künstlich erschaffen worden war, mit Schweiß und Blut und unendlicher Geduld, überstieg beinahe ihre Vorstellungskraft.
    Wie hatten die Arbeiter ausgesehen, die diese Figuren aus dem Stein gehauen hatten? Wie Menschen? Oder eher wie die Wächter am Schlund, schabenartige Kreaturen, die den überflüssigen Fels gefressen hatten, statt ihn abzuschlagen?
    Trotz der Geschwindigkeit der Herolde dauerte es eine ganze Weile, bis sie die Kämpfer hinter sich gelassen hatten. Der Felsspalt selbst war um einiges tiefer, als Merle vermutet hatte, und er verlief in einer leichten Biegung, was es unmöglich machte, sein Ende zu erkennen. Die Felswände zogen rechts und links an ihnen vorüber, und hier und da sah Merle fliegende Lilim, die ihnen entgegenkamen oder denselben Weg nahmen wie sie. Sie alle schienen den Herolden in weiten Bögen auszuweichen, so als fürchteten sie die riesigen Steinschädel.
    Kein Lilim schien auszusehen wie der andere. Manche ähnelten dem Bild, das sich die Menschen seit Jahrtausenden von den Bewohnern der Hölle machten: gehörnte, schuppige Wesen, die auf gewölbten Schwingen dahinsegelten. Andere hatten Ähnlichkeit mit übergroßen Insekten, klickend und schnarrend in schwarzen Panzern aus Horn. Der überwiegende Teil aber glich nichts, das Merle je gesehen hatte. Bei den meisten ließen sich Gliedmaßen ausmachen, manchmal auch etwas, das ein Gesicht sein mochte, Augen, Rachen, Zähne.
    »Die sehen alle völlig unterschiedlich aus«, sagte sie fasziniert.
    Winter lächelte. »Nach einer Weile wirst du feststellen, dass es wiederkehrende Muster gibt. Sie sind nur nicht so leicht zu erkennen wie bei Menschen oder Tieren. Aber wenn man sich erst einmal an den Anblick gewöhnt hat, sieht man sie sofort.«
    Irgendwann endete der Spalt. Vor ihnen öffnete sich ein grandioses Panorama. Axis Mundi.
    Die Stadt Lord Lichts, das Zentrum der Hölle. Merle hatte einen Vorgeschmack wahrer Größe bekommen, als sie die Wächter am Schlund und dann die beiden Kämpfer im Felsspalt erblickt hatte. Dies hier aber war der reine Irrwitz. Ein Anblick, der sich nur erfassen ließ, wenn man den Verstand abschaltete und lediglich schaute - nur wahrnahm, statt verstehen zu wollen. Denn begreifen ließ sich dieser Ort wahrhaftig nicht.
    Die Stadt sah aus wie ein Meer aus Schildkrötenpanzern, über- und untereinander geschoben, manche verkantet, andere geborsten. Kuppeln aus Felsgestein erstreckten sich zwischen Türmen, Minaretten und Pyramiden, unter Brücken und Stegen und Gittern. Nichts war unbebaut, alles bewohnt. Die Felswände, zwischen denen sich Axis Mundi ausdehnte wie ein Korallenriff, waren mit Häusern und Hütten überzogen; die Türme von ganzen Stämmen insektoider Lilim befallen; die Riffe, die wie Knochen auf einem Elefantenfriedhof zwischen den Bauten emporragten, mit wimmelndem Leben bedeckt; und selbst in den tausenden von Rauchsäulen, die sich unter der Decke verloren, nisteten dunkle, flatternde Kreaturen.
    Im Zentrum dieses Sammelsuriums aus unbegreiflicher Vielfalt thronte eine Kuppel, die breiter und höher war als alle anderen. Die Herolde hielten auf sie zu, und Merle ahnte, dass sie sich dem Allerheiligsten näherten, dem triumphalen Tempel Lord Lichts, dem Ort, an dem die Zentren von Axis Mundi, der Hölle und vielleicht sogar der ganzen Welt zu einem einzigen machtvollen Bauwerk verschmolzen.
    Sie würden noch eine Weile brauchen, ehe sie dort ankamen, so weit war der Weg vom Ende des Felsspalts über die Dächer, Spitzen und Giebel. Merle nutzte die Gelegenheit, das Chaos

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