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Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Titel: Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Archäologen.
    Zuerst senkte sich der vordere Schädel auf einen freien Platz, dann auch ihr eigener. Mit einem mörderischen Ruck, der Merle und Winter von den Füßen riss, kam die Unterseite auf dem Boden auf. Der Lärm war ohrenbetäubend. Der Stein bebte noch eine ganze Weile nach, so stark war die Erschütterung gewesen.
    Merle kämpfte sich hoch, noch ganz schwindelig und taub von dem Aufprall. Furchtsam schaute sie nach unten. Beinahe hatte sie erwartet, dass aus allen Richtungen Lilim auf den Schädel zueilten, wie Hafenarbeiter zum Entladen eines eingelaufenen Schiffs. Aber der Boden rund um den Herold blieb leer. Vorerst.
    Ein mächtiger Schatten erschien vor der Mundöffnung, dann schoss Vermithrax über sie hinweg, viel zu schnell und mit Flügelschlägen, die einen wahren Sturm entfachten. Er konnte seine Geschwindigkeit gerade noch vermindern, um nicht gegen den Gaumen der Mundhöhle zu krachen. Schnaubend kam er am Boden auf und glitt herum, ganz Raubkatze, ganz Krieger vom Kopf bis zur Pranke.
    Gespannt kam er näher und ließ dabei Winter nicht aus den Augen. Ohne Merle anzusehen, fragte er sie: »Geht’s dir gut?«
    »Wir sind alle gesund und munter.«
    Zwischen Vermithrax und Winter entfachte sich ein stummes Blickduell. Merle war froh, dass sie nicht zwischen ihnen stand, aus Angst, der Blitz hätte sie treffen können bei so viel Argwohn und Anspannung, die jetzt in der Luft lagen.
    »Vermithrax«, sagte sie beruhigend, »Winter ist auf unserer Seite.« Noch während sie es aussprach, war sie dessen gar nicht mehr sicher. Vielleicht war es Mitleid. Oder Sorglosigkeit.
    »Dein Name ist Winter?«, fragte Vermithrax.
    Der weißhäutige, weißhaarige Mann nickte. »Und deiner Vermithrax.« Er sprach den seltsamen Namen des Löwen ohne Zaudern oder die Spur eines Versprechers aus, so als kenne er ihn schon lange. Und tatsächlich fügte er hinzu: »Ich habe von dir gehört.«
    Der Obsidianlöwe warf Merle einen fragenden Blick zu, aber sie hob abwehrend die Hände. »Nicht von mir.«
    »Deine Geschichte ist eine alte und wohl bekannte«, sagte Winter zu dem Löwen, »und zwar überall auf der Welt. Ich habe an vielen Orten davon gehört.«
    Vermithrax hob eine Augenbraue. »So?«
    Winter nickte. »Der mächtigste der steinernen Löwen von Venedig. Du bist eine Legende, Vermithrax.«
    Merle fragte sich unwillkürlich, warum dann sie selbst niemals die ganze Geschichte über Vermithrax’ Aufstand gegen die Venezianer gehört hatte. Erst die Fließende Königin hatte ihr davon erzählt.
    »Du kommst von oben?«, fragte der Löwe.
    Winter nickte abermals.
    Um das drohende Verhör abzukürzen, fiel Merle den beiden ins Wort und erzählte Vermithrax alles, was sie von Winter erfahren hatte. Aus ihrem Mund klang seine Geschichte noch haarsträubender. Vermithrax blieb weiterhin feindselig, und sie konnte es ihm schwerlich verübeln. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, Winters unglückliche Liebe zu Sommer zu erwähnen. Damit strapazierte sie seine Glaubwürdigkeit bis zum Äußersten - und darüber hinaus.
    »Merle«, sagte plötzlich die Fließende Königin. »Wir müssen fort von hier. Schnell.«
    Vermithrax wollte gerade einen weiteren drohenden Schritt auf Winter zumachen, als Merle dazwischensprang. »Hört jetzt auf! Sofort, alle beide!«
    Vermithrax blieb stehen, löste dann endlich seinen Blick von Winter und sah Merle an. Der Ausdruck seiner Augen wurde schlagartig sanfter. »Er könnte gefährlich sein.«
    »Gefährlich sind vor allem die Lilim, die sich gerade von allen Seiten nähern«, sagte Merle, aber es war die Fließende Königin, die aus ihr sprach.
    Bist du sicher?, dachte sie.
    »Ja. Sie werden gleich da sein.«
    Vermithrax machte einen Satz und landete auf dem Rand der steinernen Unterlippe. »Du hast Recht.«
    Auch Winter erklomm den Steinwulst, flink gefolgt von Merle. Ein erschrockener Laut drang aus ihrer Kehle, und sie beruhigte sich rasch damit, dass das die Königin gewesen sein musste. Natürlich wusste sie es besser.
    Zahlreiche Lilim näherten sich dem Herold, absurde Spottgestalten mit viel zu vielen Gliedmaßen, scharfkantigen Hornpanzern und augenlosen Schädeln. Die meisten wuselten flach über den Boden, andere gingen aufrecht, wenn auch vom Gewicht ihrer Hornleiber leicht vornübergebeugt. Einige liefen auf langen, dürren Beinen wie auf Stelzen, und ihre Arme standen verwinkelt ab wie die Glieder von Weberknechten. Sie waren es, die Merle am meisten entsetzten, denn

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