Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort
einmal von innen. Nachdem er den ersten Moment des Zweifels und der aufsteigenden Panik überwunden hatte, gewöhnte er sich erstaunlich schnell daran.
Unke und er hatten allen Gefährten die Hände geschüttelt, auch Lalapeja. Die Sphinx zog es weiterhin vor, ihre Menschengestalt beizubehalten. Dann waren sie zu den Meerjungfrauen ins Wasser gestiegen. Serafins Kleidung saugte sich voll Wasser, doch durch den Lederbund am Hals drang kein Tropfen. Er war überzeugt, dass die Helme magisch waren; und falls tatsächlich eine uralte Technik dahinter steckte, so war sie mitsamt ihren Meistern längst vergessen.
Er hatte sich ihren Abstieg in das Reich der Meerhexe als phantastische Reise durch die Tiefe vorgestellt, atemberaubende Ausblicke über Korallenriffe, verschlungene Pflanzen und unbekannte Geschöpfe, Schwärme aus Millionen von Fischen, schillernd und bunt und von schmerzhafter Schönheit.
Stattdessen erwartete sie Dunkelheit.
Das Licht von der Oberfläche blieb schon nach wenigen Metern zurück. Die Umgebung färbte sich erst dunkelgrün, dann schwarz. Er sah Unke nicht mehr, sah auch nicht die beiden Meerjungfrauen, die ihn an den Händen steil nach unten zogen. Der Druck auf seinen Körper tat weh, schien ihm aber nichts weiter anzuhaben, was so ziemlich allen Theorien widersprach, die er über Tauchgänge in solche Tiefen gehört hatte. Eigentlich war es naiv, all dies der Wirkung des Helms zuzuschreiben, das wusste er nur zu gut, aber schließlich blieb ihm gar keine andere Wahl.
Die Wand aus Schwärze um ihn herum war vollkommen, er konnte nicht einmal seine eigenen Arme sehen. Ebenso gut hätte er körperlos dahinschweben können. Und vielleicht war es ja genau das: Man gab am Eingang zum Reich der Meerhexe seinen Leib an der Garderobe ab wie anderswo Zylinder und Mantel. Es irritierte ihn - nein, in Wahrheit machte es ihm schreckliche Angst -, dass er Unke und die Meerjungfrauen nicht mehr sehen konnte, obschon er noch immer ihre Hände spürte. Und wenn es nun Einbildung war? Wenn er längst allein dahintrieb, in einem Abgrund aus Kälte und Finsternis und Gott weiß was für Geschöpfen?
Denk nicht daran. Mach dich nicht verrückt. Alles ist in Ordnung, alles wird gut.
Er rief sich Merles Gesicht in Erinnerung, ihr Lächeln, den Mut und das Blitzen in ihren Augen, den tapferen Zug um ihre Lippen und das widerspenstig wilde Haar. Er musste sie einfach wieder sehen.
Dafür nahm er auch die Begegnung mit einer Meerhexe in Kauf.
Unter ihm - vor ihm? - über ihm? - erschienen diffuse Lichter in der Schwärze. Im Näherkommen sahen sie aus wie, ja, wie Fackeln.
Bald erkannte er, dass seine Vermutung der Wahrheit recht nahe kam. In weiten Abständen hingen Kugeln in der See, nicht starr wie sein Helm, sondern wabernd, allzeit ihre Form verändernd: Luftblasen.
Und in den Blasen brannten Feuer.
Feuer in der Tiefe, dutzende, hunderte von Metern unter der Oberfläche!
In ihrem Schein konnte er jetzt wieder seine Begleiterinnen erkennen, bleiche Schemen mit langem Haar, Frauen, deren Hüften in geschmeidigen Schuppenschwänzen ausliefen. Sogar hinter dem Vorhang aus treibenden Partikelwolken und tintigen Schattensträngen waren ihre Gesichter von makelloser Perfektion - wären da nicht die breiten Mäuler gewesen, von einem Ohr zum anderen und gespickt mit einer Unzahl rasiermesserscharfer Zähne. Aber es waren nicht die Haifischschlünde der Meerjungfrauen, die immer wieder seine Blicke anzogen, sondern ihre wunderschönen Augen.
Die Luftblasen, an deren Wölbungen die Flammen leckten, wurden jetzt häufiger, und bald sah er sie auch auf dem Meeresgrund. Der Boden war felsig, mit extremen Höhenunterschieden. Auf bizarren Graten und Zacken hüpften die Lichtblasen leicht auf und ab, von unsichtbaren Strömungen zum Leben erweckt, während die tiefen Schrunde und Schluchten sich in Schwärze verloren. Bald konnte er erkennen, dass die Oberflächen, selbst die Wände des unterseeischen Gebirges mit Strukturen bedeckt waren, Ruinen von Mauern, von Gebäuden, von Straßen und Wegen. Ob dieser Ort einstmals über Wasser gelegen oder seine Bewohner hier wie Fische gelebt hatten, blieb ungewiss. Fest stand, dass diese Stadt vor langer Zeit verlassen worden war.
Falls sie einst Teil der Subozeanischen Reiche gewesen war, nahm jenen das ein wenig von ihrem Geheimnis, fand Serafin - wer hier gelebt hatte, konnte sich nicht allzu sehr von gewöhnlichen Menschen unterschieden haben, denn die Bedürfnisse
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