Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort
„Ihr al ein?"
Serafin dachte an den kleinen Trupp, der an der Wasseroberfläche auf sie wartete. Er vermutete, dass Dario, Aristide und Tiziano sich ihnen anschließen würden. Aber Lalapeja? Sie war eine Sphinx, auch wenn sie die Gestalt eines Menschen angenommen hatte. Schon in Venedig hatte sie sich gegen ihr Volk und damit gegen das Imperium gestellt, aber die Niederlage hatte sie ausgelaugt. Er war nicht sicher, ob sie bereit war, den Kampf jetzt noch fortzuführen. Oder was für einen Grund sie dafür haben sollte.
Überhaupt, was bedeutete das schon, Kampf? Wie sollte der aussehen? Die Hexe hatte Recht: Bestenfalls waren sie zu sechst - gegen die geballte Macht des Pharaos und der Sphinx-Kommandanten.
Die Hexe stellte Unke die gleiche Frage.
Unke lächelte, aber es wirkte verbissen und noch härter, als sie sich ohnehin die meiste Zeit über gab. „Wir werden Wege finden, ihnen zu schaden. Und wenn es kleine Dinge sind: ein Überfall hier, ein toter Priester da. Ein leckgeschlagenes Schiff, vielleicht einmal ein toter Sphinx."
„Nichts davon wird auch nur bis an die Ohren des Pharaos gelangen", sagte die Hexe, „geschweige denn ihn beunruhigen."
„Darum geht es nicht. Die Tat zählt, nicht das Ergebnis. Gerade du müsstest das verstehen, Herrin.
Hast du nicht davon gesprochen, die Ruinen der Subozeanischen Reiche zu erforschen? Was bezweckst du damit? Sie werden nicht wieder in ihrem alten Ruhm auferstehen. Kein Resultat - nur der Wille, etwas zu tun. Genau wie bei uns."
„Sprichst du von Besessenheit?"
„Ich würde es Hingabe nennen."
Die Hexe verstummte, und je mehr Zeit verging, desto überzeugter wurde Serafin, dass Unke den richtigen Ton angeschlagen hatte. Zugleich wurde ihm klar, dass die Meerjungfrau jedes Wort ernst gemeint hatte. Das erschreckte ihn ein wenig, weckte aber auch seine Bewunderung. Sie hatte Recht.
Er würde mit ihr gehen, egal, wohin.
„Wie ist dein Name?", fragte die Hexe schließlich.
Unke antwortete ihr. Dann fügte sie hinzu: „Und dies hier ist Serafin, der geschickteste unter den Meisterdieben Venedigs. Und Freund der Meerjungfrauen."
„Ihr seid verrückt, aber ihr seid auch tapfer. Das gefällt mir. Du bist eine starke Frau, Unke. Eine gefährliche Frau, für andere und für dich selbst. Gib Acht, dass die Waage sich nicht allzu sehr zu deiner Seite neigt."
Es war Serafin nie in den Sinn gekommen, dass Meerhexen weise sein könnten. Hinter der Angst einflößenden Fassade steckte weit mehr als der animalische Hunger nach Menschenfleisch.
„Heißt das, du lässt uns ziehen?" Unke sprach sachlich, ohne jeden Überschwang.
„Ich werde euch nicht nur ziehen lassen. Ich werde euch helfen."
Die Worte der Hexe mochten Serafin beeindruckt haben, aber das bedeutete nicht, dass er sie sich als Begleiterin wünschte. Nein, ganz und gar nicht.
Aber die Hexe dachte an etwas anderes. „Meine Dienerinnen werden euch zurück zu euren Gefährten bringen. Wartet dort eine Weile. Dann werdet ihr erkennen, was ich meine."
Und so geschah es.
Das Gesicht der Hexe zog sich aus der Luftblase zurück und versank in der Finsternis. Serafin machte ihren gekrümmten Umriss ein letztes Mal in den Schatten aus, ehe rundherum die Feuerblasen erloschen und das titanische Wesen eins wurde mit der Dunkelheit.
Sie kehrten zurück, wie sie hergekommen waren. Als sie durch die Oberfläche brachen und das Licht des Tages über sich sahen, entfuhr Serafin ein dankbarer Seufzer. Vielleicht war er nicht der erste Mensch, der eine Audienz bei einer Meerhexe überlebt hatte, gewiss aber einer von wenigen. Er hatte dazugelernt, indem er ihr zugehört hatte, und sein Bild von der Welt war erneut ein wenig facettenreicher, lebendiger, vielfältiger geworden. Dafür war er ihr dankbar.
Dario und die anderen Jungen halfen ihnen aus dem Wasser, hinauf auf den treibenden Kadaver der alten Meerhexe. Voll von bösen Gedanken, rief sich Serafin die Stimme aus der Tiefe ins Gedächtnis, und jetzt fand er es noch ein wenig scheußlicher, seine Füße auf das tote Fleisch des Leichnams zu setzen und sich beim Hinaufklettern mit den Händen darauf abzustützen.
Auf dem Kamm des leblosen Schuppenschwanzes wurden sie von Lalapeja erwartet. Die Sphinx lächelte nicht, aber sie wirkte erleichtert. Es war das erste Mal seit ihrer Flucht aus Venedig, dass Serafin in ihren Zügen eine andere Gefühlsregung als Leid und Trauer entdeckte.
Abwechselnd berichteten sie, was geschehen war, und wurden nicht
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