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Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort

Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort

Titel: Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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waren dieselben: Wände, um sich dahinter zu verbergen; Straßen, um nicht vom Weg abzukommen; Schutz hinter Stein und Metall.
    Die Meerhexe residierte auf einer Klippe, hoch über dem versunkenen Felsenland.
    Sie schlängelte sich einem weißen Wurm gleich in der Finsternis, umtanzt von Feuerblasen wie Glühwürmchen - und doch auf rätselhafte Weise ihrem Schein entzogen, als wehrte sich ihre Haut dagegen, das Licht zu reflektieren.
    Sie spie eine Luftblase aus, groß wie der Frachtraum einer Handelsfregatte. Mit dünnen, feingliedrigen Händen winkte sie Serafin und Unke heran. Ihr langes Haar umschwebte ihren Kopf wie ein Wald aus Wasserpflanzen, wogend und wallend, ohne jemals auf die Schultern herabzusinken.
    Sie war so groß wie ein mächtiger Turm, größer noch als der Kadaver ihrer Rivalin, den Serafin und die anderen an der Oberfläche entdeckt hatten. Ihr Antlitz vereinte die Schönheit der Meerjungfrauen mit der Bedrohlichkeit eines Riesenkraken.
    Die Luftblase waberte auf Serafin und Unke zu. Kurz bevor sie die beiden erreichte, lösten sich die Meerjungfrauen von ihrer Seite und wuselten mit ein paar flinken Schlägen ihrer Schuppenschwänze davon. Serafin wollte der Blase ausweichen, doch da berührte sie ihn schon und zog ihn in ihr Inneres.
    Mit einem Keuchen glitt er an der Rundung hinab und kam am tiefsten Punkt der Blase zum Liegen. Nur einen Augenblick später landete Unke neben ihm. Sie trug immer noch den kleinen Rucksack mit Arcimboldos Spiegelmaske auf dem Rücken, nichts und niemand vermochte sie davon zu trennen. Die Schnallen waren so festgezurrt, dass die Riemen in ihre Schultern einschnitten.
    Aus der Dunkelheit schälte sich das Gesicht der Hexe. Sie formte ihre Lippen zu einer Art Kussmund, mit dem sie die Blase zu sich heransaugte. Ihre riesenhaften Züge kamen näher und näher, waren schließlich groß wie ein Haus. Serafin versuchte zurückzuweichen, doch seine Hände und Füße fanden auf dem rutschigen Blasenboden keinen Halt. Er konnte nur dasitzen und abwarten, während sie unaufhaltsam auf den Mund der Hexe zutrieben.
    „Sie saugt uns auf."
    „Nein, das glaube ich nicht." Unke blickte gebannt auf das mächtige Gesicht, schrecklich und schön zugleich.
    „Meerhexen sind Menschenfresser", sagte er beharrlich, „das weiß jedes Kind."
    „Aasfresser, das ist ein Unterschied. Sie essen tote Menschen, keine lebenden."
    „Und wer wird sie daran hindern, diesen kleinen Schönheitsfehler mit einem Fingerschnippen zu beheben?"
    „Wenn sie uns töten wollte, hätte sie das schon an der Oberfläche tun können. Aber sie hat gerade erst eine andere Meerhexe besiegt und deren Reich in Besitz genommen. Vermutlich ist sie deshalb guter Laune - soweit man so was von einer Meerhexe behaupten kann."

    Das Gesicht war jetzt noch etwa zehn Meter entfernt. Ein Dutzend Feuerblasen glitten heran und flackerten wie eine Krone um das Haupt der Hexe. Serafin starrte nur ihre Lippen an, voll und dunkel, kein breiter Schlitz wie bei den Meerjungfrauen. Dahinter blitzten helle Zähne auf, lang und spitz wie Zaunpfähle.
    Die Wand der Luftblase wölbte sich unter den Gesichtszügen der Hexe nach innen, Nase, Mund und Augen brachen hindurch und befanden sich mit einem Mal direkt vor Serafin und Unke im Trockenen: Die Hexe hatte sich die Blase übers Gesicht gestülpt wie eine Maske. Wasser lief über ihre weißgraue Haut, breite Rinnsale, die vom Nasenrücken hinab zu ihren Mundwinkeln und zum Kinn flossen.
    Die Hexe hatte das Gesicht einer jungen Frau, ins Absurde vergrößert wie unter einer Lupe. Ihr in die Augen zu blicken bedeutete, so rasch von rechts nach links zu schauen, dass einem schwindelig wurde, so weit war der Abstand zwischen ihnen.
    Unke hatte alle Versuche aufgegeben, sich aufzurichten. Sie blieb sitzen und tat ihr Bestes, eine Verbeugung anzudeuten. Serafin nahm an, dass von ihm dasselbe erwartet wurde, und so fügte er sich.
    Die Meerhexe blickte auf sie herab, eine Wand aus Mund und Augen und grässlichen Zähnen. „Ich begrüße euch in der Untersee." Ihre Stimme war nicht so laut, wie Serafin befürchtet hatte, doch der Gestank, der über ihre Lippen kam, presste ihn zurück in die Blasenwand wie eine heiße Sturmböe.
    Innerhalb von Sekunden roch es im Inneren der Blase wie im Schlachthaus an der Calle Pinelli. Der Geruch drang sogar durch den Tauchhelm. „Was führt euch in mein Reich?"
    „Eine Flucht", sagte Unke geradeheraus.
    „Vor wem?"
    „Du weißt, in welchen

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