DIE MEROWINGER: Familiengruft
Soissons ein. Sie wüten dort, wie sie es immer taten: Sie plündern und brandschatzen, tyrannisieren die Bewohner, schänden Frauen, berauben Kirchen, fangen Menschen zum Verkauf in die Sklaverei, feiern ihren Sieg mit endlosen Gelagen.
Dabei tun sich besonders zwei Vettern Chlodwigs hervor, die Könige Ragnachar (Cambrai) und Chararich (Tongeren). Während sie sich in der Schlacht mit ihren Gefolgschaften feige im Hintergrund hielten, schwärmen sie jetzt auch in die Umgebung von Soissons aus, um dort verbrannte Erde zu hinterlassen.
Der junge Chlodwig, der ein Regime nach dem Vorbild der Römer errichten und dazu die Galloromanen für sich gewinnen will, hasst diese Verwandten und hegt Rachegefühle gegen sie. Mit einer Kriegslist kann er sie vorerst vertreiben.
In Paris, das noch römisch ist, fühlt sich der Statthalter Syagrius nicht sicher und sucht nach neuen Fluchtzielen. Seine Geliebte, die Griechin Scylla, die Verfolgung durch die Franken ebenfalls fürchten muss (Baddo, der Mächtigste hinter Chlodwig, sucht Vergeltung für schweres Unrecht, das sie ihm einst zufügte), verlässt ihn zugunsten des Pariser Präfekten, kehrt aber, von diesem enttäuscht, zu ihm zurück, um mit ihm weiter zu fliehen, zu den Westgoten südlich der Loire. Denn zum Frühjahr wird der nächste Angriff der Franken erwartet. Während sich Chlodwigs Schwestern nun seiner Heiratspolitik unterwerfen müssen und noch einen Winter lang amüsieren, nutzt der junge König die Zeit, um diesen Waffengang vorzubereiten. Der Konflikt um einen beschädigten Krug schafft ihm Gelegenheit, auf grausame Weise zu demonstrieren, dass er Alleinherrscher ist und auf Moral und Gesetze keine Rücksicht mehr nehmen muss.
Dramatis personae
Chlodwig, König der Franken
Chlotilde, Burgunderin, seine Braut
Sunna, Chlodwigs Gemahlin
Theuderich (Therri), Chlodwigs Sohn, 8 Jahre alt
Basina, Chlodwigs Mutter
Audofleda, Chlodwigs Schwester
Albofleda, Chlodwigs Schwester
Lanthild, Chlodwigs Schwester, Gemahlin Ansoalds
Baddo, Chlodwigs Vertrauter
Bobo, Chlodwigs Gefolgsmann, Maior domus
Ursio, Chlodwigs Gefolgsmann
Ragnachar, König der Franken (Cambrai)
Richar, Ragnachars Bruder
Alarich, König der Westgoten
Leo, Maior domus Alarichs
Scylla, Geliebte des Alarich
Gundobad, Oberkönig der Burgunder (Lyon)
Godegisel, Unterkönig der Burgunder (Genf)
Syagrius, früherer römischer Statthalter
Remigius, Bischof von Reims
Avitus, Bischof von Vienne
Ansoald, Comes (Graf) von Soissons
Iullus Sabaudus, Referendar
Chundo, Diakon
Potitius, Gutsbesitzer
Kapitel 1
Das Boot legte an. Chlodwig raffte den Mantel und sprang ans Ufer. Mit raschen, raumgreifenden Schritten stieg er hinauf zu dem kleinen, windschiefen Tempel, dem Treffpunkt.
Der andere kam von der gegenüberliegenden Seite. Fast gleichzeitig hatte seine Prunkgaleere dort festgemacht.
Der andere war der König der Westgoten, Alarich. Auch er hatte schnell die steile Böschung genommen und war ein bisschen außer Atem.
Er lachte fröhlich, breitete die Arme und rief: »Mein Bruder!«
Schon hatte ihn Chlodwig an der Brust. Die rotblonde Lockenmähne des untersetzten Westgoten kitzelte sein Kinn. Ein fremdartiger, süßlicher Duft stieg daraus auf. Die rauhen, harten Hände des Franken lagen auf einem mit Seide bedeckten, fleischigen Rücken.
»Du also bist es – du bist Chlodwig!«, rief der Gote und trat zwei Schritte zurück. »Man hat mir dich zwar beschrieben, aber ich konnte mir keine Vorstellung machen. Wie habe ich diese Begegnung herbeigesehnt!«
»Freut mich ebenfalls, dass wir uns endlich treffen«, sagte Chlodwig.
Auch er hatte sich Alarich beschreiben lassen. Trotzdem überraschte ihn dessen Erscheinung. Er wusste zwar, dass der Gote nur drei Jahre älter war als er, achtundzwanzig Jahre also, dennoch hatte er sich vorgestellt, einem gesetzten, ernsten Mann zu begegnen, aus dessen Zügen der Geist seiner großen Vorgänger leuchtete: des gewaltigen ersten Alarich, des ehrgeizigen Athaulf, des kühnen Wallia, des furchtbaren Eurich.
Stattdessen stand vor ihm ein heiterer, hübscher, harmlos wirkender junger Herr mit einem fast mädchenhaften Gesicht, im reich bestickten, gefältelten Mäntelchen, sorgsam geordnet das Haar, dicke Goldreife an den Armen. Einer, der zweifellos wenig gekämpft hatte (wozu er auch nicht genötigt war) und der die königliche Stellung genoss, die er seit sieben Jahren innehatte. Er war schon ein bisschen dicklich und aufgedunsen, die Spuren
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