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Die Messerknigin

Titel: Die Messerknigin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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weiß aber noch, als ich zu meiner Absteige kam, stand ich einfach da, unfähig, reinzugehen, mich zu waschen und schlafen zu legen, unwillig, irgendwas anderes zu tun.
    Ich war nicht hungrig. Ich wollte keinen Alkohol. Ich wollte auch nicht lesen oder reden. Ich hatte Angst, zu weit wegzugehen, falls ich mich verirrte, von den sich wiederholenden Motiven der Stadt verhext, im Kreise gedreht und verschluckt zu werden, sodass ich nie wieder heimfinden würde. Central Los Angeles schien mir manchmal nichts weiter zu sein als ein Muster, ein sich ewig wiederholender Satz von Blocks: eine Tankstelle, ein paar Wohnhäuser, eine Mini-Passage (Doughnuts, Fotoladen, Waschsalon, Fastfood), die sich aneinander reihen, bis man hypnotisiert ist. Und die winzigen Variationen in den Mini-Passagen und Wohnhäusern dienen nur dazu, die Struktur zu verstärken.
    Ich dachte an Tinks Lippen. Dann kramte ich in meiner Jackentasche und zog schließlich eine Packung Zigaretten hervor.
    Ich steckte mir eine an, inhalierte und blies blauen Rauch in die warme Nachtluft.
    Eine verkrüppelte Palme wuchs vor meiner Absteige und ich beschloss, ein Stück zu laufen und den Baum dabei im Blick zu behalten, meine Zigarette zu rauchen, vielleicht sogar ein bisschen nachzudenken, aber ich fühlte mich zu ausgelaugt, um nachzudenken. Ich fühlte mich vollkommen geschlechtslos und sehr allein.
    Einen Block oder so die Straße runter stand eine Bank. Als ich hinkam, setzte ich mich. Ich warf meine Kippe hart auf den Gehweg und sah die orangefarbenen Funken in alle Richtungen spritzen.
    Jemand sagte: »Ich kauf Ihnen eine Zigarette ab, Freund. Hier.«
    Eine Hand vor meinem Gesicht, die einen Vierteldollar hielt. Ich sah auf.
    Er wirkte nicht alt, obwohl ich nicht hätte sagen können, wie alt er sein mochte. Ende dreißig vielleicht. Oder Mitte vierzig. Er trug einen langen, schäbigen Mantel, farblos im Licht der Straßenlaterne, und seine Augen waren dunkel.
    »Hier. Ein Quarter. Das ist ein guter Preis.«
    Ich schüttelte den Kopf, zog mein Päckchen Marlboros aus der Tasche und hielt es ihm hin. »Behalten Sie Ihr Geld. Die kostet nichts. Bitte.«
    Er nahm eine Zigarette. Ich gab ihm ein Streichholzbriefchen (eine Werbung für Telefonsex war darauf, das weiß ich noch) und er zündete seine Zigarette an. Er wollte mir die Streichhölzer zurückgeben, aber ich schüttelte den Kopf. »Behalten Sie die. Irgendwie sammel ich immer Unmengen von Streichholzbriefchen, wenn ich in Amerika bin.«
    »Hm.« Er setzte sich neben mich und rauchte. Als die Zigarette zur Hälfte abgebrannt war, streifte er die Spitze am Asphalt ab, drückte die Glut aus und steckte sich den Stummel hinters Ohr.
    »Ich rauche nicht viel«, sagte er. »Aber es wäre schade, die Hälfte einfach wegzuwerfen.«
    Ein Auto raste die Straße entlang, fuhr in Schlangenlinie von einer Seite zur anderen. Vier junge Männer saßen darin, die zwei vorne zerrten beide am Lenkrad und lachten. Die Fenster waren offen und ich hörte ihr Lachen und die zwei auf dem Rücksitz ( »Gary, du Arschloch! Was machst du denn, Mann?« ) und den pulsierenden Rhythmus eines Rocksongs. Kein Song, den ich kannte. Der Wagen schleuderte um die Ecke und war verschwunden.
    Bald verhallten auch die Geräusche.
    »Ich schulde Ihnen was«, sagte der Mann auf der Bank.
    »Bitte?«
    »Ich bin Ihnen was schuldig. Für die Zigarette. Und die Streichhölzer. Sie wollten kein Geld. Jetzt bin ich Ihnen was schuldig.«
    Ich zuckte verlegen die Schultern. »Ach, es war doch nur eine Zigarette. Ich denk mir immer, wenn ich mal keine hab, dann gibt mir vielleicht auch mal jemand eine aus.« Ich lachte, um zu zeigen, dass ich das nicht ernst meinte, obwohl ich es doch tat. »Vergessen Sie’s.«
    »Tja. Möchten Sie eine Geschichte hören? Geschichten waren früher immer eine willkommene Bezahlung. Heutzutage …« – er hob viel sagend die Schultern – »… nicht mehr so.«
    Ich lehnte mich auf der Bank zurück und die Nacht war warm und ich sah auf meine Uhr. Beinah ein Uhr morgens. In England hatte schon ein eisiger neuer Tag begonnen, ein Arbeitstag für diejenigen, die es schafften, den Schnee zu überwinden und zur Arbeit zu kommen, und wieder einmal waren vermutlich eine Handvoll alter Leute und Obdachloser in der Nacht erfroren.
    »Sicher«, sagte ich zu dem Mann. »Nur zu, erzählen Sie mir eine Geschichte.«
    Er hustete und grinste, wobei seine Zähne in der Finsternis aufblitzten, ehe er begann:
    »Das Erste,

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