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Die Messerknigin

Titel: Die Messerknigin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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Als ich sieben war, gehörten sie schon der Vergangenheit an.
    Wir lebten in einem alten Haus am Rand des Städtchens. Die Felder gegenüber waren leer und brach. Manchmal kletterte ich über den Zaun und legte mich in den Schatten der Binsen und las, manchmal packte mich auch die Abenteuerlust und ich erkundete den Park des verlassenen Gutshauses jenseits der Felder. Dort gab es einen überwucherten Zierteich, den eine niedrige Holzbrücke überspannte. Während meiner Streifzüge dort traf ich niemals irgendwelche Gärtner oder Hausmeister in Garten und Park und ich versuchte nie, in das Herrenhaus einzudringen. Das hätte bedeutet, mein Glück über Gebühr zu strapazieren, und außerdem gab es für mich nicht den geringsten Zweifel, dass es in allen verlassenen, alten Häusern spukte.
    Es war nicht so, dass ich leichtgläubig gewesen wäre, ich glaubte lediglich an all die Dinge, die finster und gefährlich waren. Und Teil dieses jugendlichen Credos war auch, dass die Nacht von Geistern und Hexen bevölkert war, hungrig und flatternd und ganz in Finsternis gehüllt.
    Der Umkehrschluss hatte dementsprechend etwas Beruhigendes: Im Tageslicht war man sicher. Im Tageslicht war man immer sicher.
    Ein Ritual: Am letzten Schultag vor den großen Sommerferien zog ich mir auf dem Heimweg Schuhe und Strümpfe aus, hielt sie in der Hand und lief auf empfindlichen, weichen rosa Füßen den steinigen Schotterweg entlang. Während der Ferien trug ich nur unter Zwang irgendwelches Schuhwerk. Ich schwelgte in barfüßiger Freiheit, bis im September die Schule wieder begann.
    Als ich sieben war, entdeckte ich den Pfad durch den Wald. Es war Sommer, heiß und hell, und an diesem Tag entfernte ich mich weit von zu Hause.
    Ich unternahm eine Forschungsreise. Ich ging am alten Gutshaus mit seinen verbretterten Fenstern vorbei, durchquerte den Park und kam schließlich durch einen unbekannten Wald. Ich kletterte eine steile Böschung hinab und fand mich auf einem von Bäumen überschatteten Pfad. Das Licht, das durch das Laubdach drang, war grün und golden gefleckt und ich glaubte, ich sei im Feenland.
    Ein Bach plätscherte entlang des Weges, er wimmelte nur so von winzigen, durchsichtigen Flusskrebsen. Ich holte sie heraus, beobachtete, wie sie sich auf meinen Fingerspitzen krümmten und wanden, dann warf ich sie wieder ins Wasser.
    Ich lief weiter den Pfad entlang. Er war schnurgerade und mit kurzem Gras bewachsen. Hin und wieder fand ich einen dieser wunderbaren Steine: blasige, geschmolzene Dinger, braun und purpurn und schwarz. Wenn man sie gegen das Licht hielt, sah man alle Farben des Regenbogens darin schimmern. Ich war überzeugt, sie müssten ungeheuer wertvoll sein, und stopfte mir die Taschen damit voll.
    Weiter und immer weiter ging ich den grüngoldenen Korridor entlang und ich sah niemanden.
    Ich spürte weder Hunger noch Durst. Ich fragte mich lediglich, wohin der Pfad wohl führen mochte. Er verlief schnurgerade und war vollkommen eben. Der Pfad selbst veränderte sich nicht, die umliegende Landschaft umso mehr. Zuerst befand ich mich am Grund einer Senke, auf beiden Seiten ragten steile, grasbewachsene Böschungen auf. Dann lag der Pfad über dem Land und ich konnte auf die Baumkronen und die Dächer der vereinzelten Häuser in der Ferne hinabsehen. Mein Weg blieb eben und gerade und ich folgte ihm durch Täler und Ebenen, Täler und Ebenen. Schließlich kam ich in einem der Täler an eine Brücke.
    Sie bestand aus akkuraten roten Backsteinen und überspannte den Pfad in einem gewaltigen Bogen. Neben der Brücke war eine steinerne Treppe in die Böschung gelegt worden, deren Abschluss ein hölzernes Törchen bildete.
    Ich war verwundert, Anzeichen menschlicher Zivilisation auf diesem Pfad zu finden. Inzwischen war ich überzeugt, er müsse eine natürliche Formation sein, wie ein Vulkan. Und vornehmlich von Neugier getrieben (ich war schließlich hunderte von Meilen gelaufen oder jedenfalls glaubte ich das und war Gott weiß wohin gelangt), stieg ich die Stufen hinauf und ging durch das Tor.
    Ich war nirgendwohin gelangt.
    Die Oberseite der Brücke war mit Morast bedeckt. Auf beiden Seiten lagen Felder. Weizen wuchs auf dem einen, das andere war eine verwilderte Wiese. Riesige Traktorreifen hatten tiefe Furchen im getrockneten Schlamm hinterlassen. Ich überquerte die Brücke, um ganz sicher zu gehen. Kein Trippel-Trappel; meine bloßen Füße verursachten keinen Laut.
    Nichts im Umkreis von vielen Meilen, nur

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