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Die Messerknigin

Titel: Die Messerknigin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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nicht sie?«
    Der Troll schwieg.
    Er beschnupperte Louise von Fuß bis Kopf, schnüffelte an den Füßen, am Schritt, an Brüsten und Haaren.
    Dann sah er mich an.
    »Sie ist unschuldig«, sagte er. »Das bist du nicht. Sie will ich nicht. Ich will dich.«
    Ich trat an die Öffnung des Brückenbogens und sah zu den Sternen auf.
    »Aber es gibt noch so vieles, das ich nie getan habe«, sagte ich teils zu mir selbst. »Ich meine, ich hab noch nie. Na ja, ich hab noch nie Sex gehabt. Ich bin noch nie in Amerika gewesen. Ich hab noch nie …« Ich unterbrach mich. »Ich hab nichts vollbracht. Noch nicht.«
    Der Troll sagte nichts.
    »Ich könnte zu dir zurückkommen. Wenn ich älter bin.«
    Der Troll sagte immer noch nichts.
    »Ich werde zurückkommen. Ehrlich, das werd ich wirklich.«
    »Zu mir zurückkommen?«, fragte Louise. »Wieso? Wohin gehst du denn?«
    Ich drehte mich um. Der Troll war verschwunden und das Mädchen, das ich zu lieben geglaubt hatte, stand im Schatten unter der Brücke.
    »Wir gehen nach Hause«, sagte ich ihr. »Komm.«
    Auf dem ganzen Rückweg sprachen wir kein einziges Wort.
    Sie verliebte sich in den Drummer der Punk-Band, die ich gründete, und viele Jahre später heiratete sie jemand anderen. Wir trafen uns einmal zufällig in einem Zug, lange nachdem sie geheiratet hatte, und sie fragte, ob ich mich an jenen Abend erinnere.
    Ich sagte, ja.
    »Ich hatte dich wirklich gern an diesem Abend, Jack«, sagte sie. »Ich dachte, du würdest mich küssen. Ich dachte, du würdest mich um eine Verabredung bitten. Ich hätte Ja gesagt. Wenn du gefragt hättest.«
    »Aber das habe ich nicht.«
    »Nein«, stimmte sie zu. Sie trug die Haare ganz kurz geschnitten. Es stand ihr nicht.
    Ich habe sie nie wiedergesehen. Diese adrette Frau mit dem verkniffenen Lächeln war nicht das Mädchen, das ich geliebt hatte, und die Begegnung hatte mir Unbehagen eingeflößt.

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    Ich zog nach London und ein paar Jahre später zog ich wieder zurück, aber die Stadt, in die ich heimkehrte, war nicht die, die ich in Erinnerung hatte: Es gab keine Felder, keine Farmen und keine schmalen Schotterwege, also zog ich sobald wie möglich wieder fort, in ein winziges Dorf zehn Meilen weiter.
    Ich zog mit meiner Familie – inzwischen hatte ich eine Frau und einen kleinen Sohn – in ein altes Haus, das vor vielen Jahren einmal ein Bahnhof gewesen war. Die Schienen waren längst entfernt worden und das alte Ehepaar von gegenüber züchtete auf der einstigen Trasse Gemüse.
    Ich wurde älter. Eines Tage entdeckte ich ein graues Haar, ein andermal hörte ich eine Aufnahme meiner Stimme und erkannte, dass ich mich genau wie mein Vater anhörte.
    Ich arbeitete in London, wo ich für eine der großen Plattenfirmen Nachwuchstalente auftat und produzierte. Ich fuhr morgens mit dem Zug hin und kam manchmal abends heim.
    Ich hatte mir eine kleine Wohnung in London genommen, denn es ist schwierig, ein geregeltes Pendlerdasein zu führen, wenn die Bands, die man unter die Lupe nehmen will, nicht vor Mitternacht auf die Bühne torkeln. Es bedeutete außerdem, dass es relativ einfach war rumzuvögeln, wenn mir der Sinn danach stand, was meistens der Fall war.
    Ich glaubte, Eleanora – das war der Name meiner Frau, den ich wohl schon eher hätte erwähnen sollen – wisse nichts von den anderen Frauen, aber als ich an einem Wintertag von einer zweiwöchigen New-York-Tour zurückkam, fand ich mein Haus kalt und leer.
    Sie hatte mir einen Brief hinterlassen, nicht nur einen Zettel. Fünfzehn säuberlich getippte Seiten und jedes einzelne Wort war wahr. Du liebst mich überhaupt nicht. Und das hast du nie getan.
    Ich war erschüttert, fühlte mich wie betäubt. Ich zog einen dicken Mantel über, verließ das Haus und stiefelte los.
    Es lag kein Schnee, aber der Boden war hart gefroren und das Laub knisterte unter meinen Schuhen. Die Bäume standen wie schwarze Skelette vor dem strengen grauen Winterhimmel.
    Ich lief am Straßenrand entlang. Autos fuhren an mir vorbei auf dem Weg von und nach London. Irgendwann trat ich auf einen Ast, der in einem Laubhaufen versteckt gelegen hatte. Er riss das Hosenbein auf und verletzte die Haut darunter.
    Schließlich erreichte ich das nächste Dorf. Ein Bach verlief im rechten Winkel zur Straße, am Ufer führte ein Pfad entlang, den ich nie zuvor gesehen hatte. Ich schlug diesen Weg ein und starrte auf das teilweise zugefrorene Flüsschen hinaus. Es gluckerte und plätscherte und sang.
    Der Pfad führte

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