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Die Messerknigin

Titel: Die Messerknigin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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Felder und Weizen und Bäume.
    Ich pflückte eine Weizenähre, schälte die süßen Körner und kaute sie versonnen.
    Schließlich wurde mir bewusst, dass ich Hunger hatte, und ich ging wieder zurück, die Treppe hinunter auf die verlassene Bahntrasse. Es wurde Zeit, nach Hause zu gehen. Ich hatte mich nicht verlaufen, alles, was ich tun musste, war, den Weg zurückzugehen, den ich gekommen war.
    Unter der Brücke wartete ein Troll auf mich.
    »Ich bin ein Troll«, sagte er. Er unterbrach sich kurz und fügte dann hinzu: »Fol rol de ol rol.«
    Er war riesengroß: fast stieß er mit dem Kopf an die Wölbung des Brückenbogens. Und er war mehr oder minder durchsichtig. Ich konnte die Backsteine und Bäume hinter ihm erkennen, verschwommen, aber nicht verdeckt. Der Troll war die Fleischwerdung all meiner Albträume: er hatte lange Fangzähne, scharfe Krallen und starke, behaarte Pranken. Seine Haare waren lang, wie die dieser kleinen Plastikpuppen – Gonk genannt –, mit denen meine Schwester so gern spielte. Seine Augen quollen hervor. Er war nackt und sein Penis baumelte aus einem Büschel Gonkhaare zwischen seinen Beinen.
    »Ich habe dich gehört, Jack«, flüsterte er, seine Stimme klang wie der Wind. »Ich habe dich über die Brücke trippeln und trappeln gehört. Und jetzt werde ich dein Leben auffressen.«
    Ich war erst sieben, aber es war helllichter Tag und ich habe keine Erinnerung an Furcht. Es ist gut, wenn man sich als Kind den Elementen der Märchenwelt gegenüberfindet – Kinder haben das nötige Rüstzeug, um damit fertig zu werden.
    »Friss nicht mich«, sagte ich zu dem Troll. Ich trug ein braun gestreiftes TShirt und braune Cordhosen. Meine Haare waren ebenfalls braun und mir fehlte ein Schneidezahn. Ich lernte gerade, durch die Zähne zu pfeifen, aber ich hatte es noch nicht ganz geschafft.
    »Ich werde dein Leben auffressen, Jack«, sagte der Troll.
    Ich sah ihm unverwandt ins Gesicht. »Meine große Schwester kommt gleich diesen Pfad entlang«, log ich. »Sie schmeckt viel besser als ich. Friss sie stattdessen.«
    Der Troll schnupperte die Luft und lächelte. »Du bist ganz allein«, sagte er. »Nichts und niemand sonst ist auf dem Pfad. Überhaupt nichts.« Dann beugte er sich vor und strich mit den Fingern über mich. Es fühlte sich an wie Schmetterlingsflügel im Gesicht, wie die Berührung eines Blinden. Dann schnüffelte er an seinen Fingern und schüttelte seinen riesigen Kopf. »Du hast gar keine große Schwester. Nur eine jüngere und sie ist heute bei ihrer Freundin.«
    »Das alles kannst du riechen?«, fragte ich erstaunt.
    »Trolle können den Regenbogen riechen und die Sterne«, flüsterte er traurig. »Trolle können die Träume riechen, die du geträumt hast, noch ehe du geboren wurdest. Komm näher und ich werde dein Leben auffressen.«
    »Ich habe Edelsteine in der Tasche«, sagte ich dem Troll. »Nimm sie, nicht mich. Sieh nur.« Ich zeigte ihm die Lavajuwelen, die ich gefunden hatte.
    »Schlacke«, sagte der Troll. »Abfallprodukte von Dampflokomotiven. Sie haben keinen Wert für mich.«
    Er öffnete das Maul weit. Scharfe Zähne. Atem, der nach verrottetem Laub und der verborgenen Unterseite der Dinge roch. »Fressen. Jetzt.«
    Es schien, als werde er mit jeder Sekunde massiver, realer, während die Welt draußen flacher wurde, ihre Farben dumpfer.
    »Warte.« Ich stemmte die Fersen in die feuchte Erde unter der Brücke, wackelte mit den Zehen, hielt mich fest an der realen Welt und starrte unverwandt in seine großen Augen. »Du willst mein Leben gar nicht auffressen. Noch nicht. Ich … ich bin erst sieben. Ich habe noch gar nicht gelebt . Es gibt so viele Bücher, die ich noch nicht gelesen habe. Ich bin noch nie im Flugzeug geflogen. Ich kann noch nicht pfeifen, jedenfalls nicht richtig. Warum lässt du mich nicht laufen? Wenn ich älter und größer geworden bin, eine richtige Mahlzeit für dich, dann komme ich wieder.«
    Die Augen des Trolls starrten mich an wie riesige Scheinwerfer.
    Dann nickte er.
    »Also dann wenn du wiederkommst«, sagte er. Und er lächelte.
    Ich machte kehrt und ging den stillen geraden Pfad zurück, wo einmal die Schienen verlaufen waren.
    Schließlich fing ich an zu rennen.
    Im grünen Licht sauste ich den Pfad entlang, schnaufend und keuchend, bis ich Seitenstiche bekam, und mit der Hand um die schmerzende Seite gekrallt stolperte ich heimwärts.

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    Die Felder verschwanden, als ich älter wurde. Häuser wurden eines nach dem anderen

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