Die Messerknigin
Diskussionsgruppe anschließen wolltest, wäre er bestimmt einverstanden.«
Diese private Diskussionsgruppe traf sich zweimal pro Woche in Mr. Aliquids kleinem Junggesellenhaus gegenüber der Schule, abends nach den Hausaufgaben.
»Ich bin kein Christ.«
»Na und? Du bist trotzdem Klassenbester im Religionsunterricht, Judenbengel.«
»Trotzdem, nein, danke. Hey, ich hab einen neuen Moorcock. Einen, den du noch nicht gelesen hast. Ein Elric-Buch.«
»Das kann nicht sein. Es gibt keine neuen.«
»Doch. Es heißt Die Augen des Jademannes . Es ist in grüner Schrift. Ich hab’s in einem Buchladen in Brighton gefunden.«
»Leihst du’s mir, wenn du es ausgelesen hast?«
»’türlich.«
Es wurde kalt und sie gingen zurück, Arm in Arm. Wie Elric und Moonglum, dachte Richard bei sich und das war nicht mehr oder weniger unsinnig als MacBrides Engel.
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Manchmal malte Richard sich aus, dass er Michael Moorcock entführte und ihn zwang, Richard sein Geheimnis zu verraten.
Wenn man ihn gefragt hätte, hätte Richard gar nicht sagen können, was genau dieses Geheimnis denn eigentlich sein sollte. Es hatte etwas mit Schreiben zu tun. Und mit Göttern.
Richard fragte sich, woher Moorcock seine Ideen bekam.
Vermutlich aus dem verfallenen Tempel, entschied er schließlich, auch wenn er sich nicht mehr entsinnen konnte, wie der Tempel ausgesehen hatte. Er erinnerte sich an einen Schatten, an Sterne und an die Empfindung von Schmerz bei der Rückkehr zu etwas, das er für längst abgeschlossen gehalten hatte.
Er fragte sich, ob alle Schriftsteller ihre Ideen von dort bekamen oder nur Michael Moorcock.
Wenn man ihm gesagt hätte, dass sie sich das alles einfach nur ausdachten, in ihren Köpfen ersponnen, hätte er es niemals geglaubt. Es musste doch einen Ort geben, woher die Magie kam.
Oder nicht?
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Vor ein paar Tagen ruft mich abends dieser Typ aus Amerika an und sagt zu mir: »Hör’n Sie mal, Mann, ich muss mit Ihnen über Ihre Religion reden.« Ich sage: »Ich hab keine Ahnung, wovon Sie da faseln, ich hab keine scheiß Religion.«
– Michael Moorcock im Gespräch, Notting Hill 1976
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Sechs Monate waren vergangen. Die bar-mizwa lag hinter Richard und er sollte bald die Schule wechseln. Er saß zusammen mit J.B.C. MacBride am frühen Abend auf dem Rasen vor der Schule. Sie lasen. Richards Eltern wollten ihn von der Schule abholen, aber sie hatten sich verspätet.
Richard las Der englische Attentäter . MacBride war in Der Teufel zieht aus vertieft.
Richard stellte fest, dass er das Buch immer dichter vor die Augen hielt. Es war noch nicht ganz dunkel, aber er konnte nicht mehr lesen. Alles verwandelte sich in Grautöne.
»Mac? Was willst du werden, wenn du erwachsen bist?«
Der Abend war lau, das Gras trocken und weich.
»Ich weiß noch nicht. Schriftsteller vielleicht. Wie Michael Moorcock. Oder T.H. White. Was ist mit dir?«
Richard überlegte. Der Himmel war jetzt grau-violett. Hoch oben stand ein hauchdünner Fingernagelmond, wie der Splitter eines Traums. Er riss einen Grashalm aus und zerpflückte ihn langsam in kleine Schnipsel, Stück um Stück. Er konnte jetzt nicht auch »Schriftsteller« sagen. Es würde aussehen, als wolle er ihn nachahmen. Und er wollte auch eigentlich gar kein Schriftsteller werden. Es gab andere Dinge, die man werden konnte.
»Wenn ich groß bin«, sagte er schließlich versonnen, »möchte ich ein Wolf werden.«
»Das gibt es nicht«, entgegnete MacBride.
»Vielleicht nicht«, sagte Richard. »Wir werden sehen.«
Hinter den Fenstern der Schule flammten nach und nach die Lampen auf und ließen den violetten Himmel dunkler erscheinen als zuvor. Der Sommerabend war mild und still. Um diese Jahreszeit dauern die Tage ewig und es wird niemals wirklich Nacht.
»Ich wäre gern ein Wolf. Nicht immer. Nur manchmal. Im Dunkeln. Nachts möchte ich wie ein Wolf durch den Wald laufen«, sagte Richard mehr zu sich selbst. »Ich würde nie jemandem was tun. Nicht so ein Wolf. Ich würde einfach weiter und immer weiter rennen im Mondlicht unter den Bäumen und niemals müde werden oder außer Atem sein und nie anhalten müssen. Das möchte ich werden, wenn ich erwachsen bin …«
Er riss noch einen Grashalm aus, schälte die Blätter geschickt ab und kaute dann langsam den Stängel.
Und die beiden Kinder saßen allein im grauen Zwielicht, Seite an Seite, und warteten auf den Anbruch der Zukunft.
Kalte Farben
I.
Um neun Uhr früh vom Briefträger geweckt,
der,
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