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Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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Gehirn, das im Hinblick auf die primitiven Anforderungen, die für das Überleben, die Nahrungssuche und die Befriedigung des Sexualinstinkts erforderlich sei, überdimensionale Proportionen besitze; endlich könnten wir beginnen, es wirklich einzusetzen. Keine geistige Kultur, rief er mir ins Gedächtnis zurück, habe sich je in einer Gesellschaft mit hoher Kriminalitätsrate entwickeln können, und zwar einfach deswegen, weil die körperliche Sicherheit die Voraussetzung für ungehindertes Denken sei, keine ernstzunehmende Reflexion, keine Dichtung, kein halbwegs kreativer Gedanke sei je von einem Menschen hervorgebracht worden, der sich Sorgen um sein Überleben machen und ständig auf der Hut sein müsse. Sobald die Konservierung unserer DNA sichergestellt sei und wir somit potentiell unsterblich geworden seien, fuhr er fort, befänden wir uns in absoluter körperlicher Sicherheit, unter Bedingungen also, die noch kein menschliches Wesen je erlebt habe; niemand könne voraussehen, welche Folgen das in geistiger Hinsicht haben werde.
    Diese friedliche und gewissermaßen von allem losgelöste Unterhaltung tat mir äußerst gut, und zum erstenmal begann ich an meine eigene Unsterblichkeit zu denken und die Dinge etwas offener in Betracht zu ziehen. Aber als ich in mein Zimmer zurückkam, fand ich auf meinem Handy eine Nachricht von Esther, die nur sagte: »I miss you«, und sofort spürte ich wieder tief in meinem Fleisch das Bedürfnis nach ihr. Freude ist etwas Seltenes. Am nächsten Tag flog ich nach Madrid zurück.
     
     

Daniel25,8
    Die ungeheure Bedeutung, die die Sexualität bei den Menschen bekam, hat ihre neo-menschlichen Kommentatoren seit jeher mit Verblüffung und Entsetzen erfüllt. Auf jeden Fall war es betrüblich zu sehen, wie sich Daniel1 nach und nach dem bösen Geheimnis näherte, wie die Höchste Schwester es nennt; es war betrüblich zu spüren, wie er allmählich vom Bewußtsein einer Wahrheit erfüllt wurde, die ihn, sobald sie offen zutage trat, zwangsläufig vernichten mußte. Im Laufe der historischen Zeitalter hatten die meisten Menschen es als angemessen empfunden, die sexuellen Probleme, die mit zunehmendem Alter auftreten, als läppische Kindereien abzutun, seriöse Themen, die die Aufmerksamkeit eines Menschen verdienten, waren für sie nur die Politik, die Geschäfte, der Krieg usw. Doch zu Lebzeiten von Daniel1 kam die Wahrheit allmählich ans Licht. Es wurde immer deutlicher, ließ sich nur noch schwer verheimlichen, daß das eigentliche Ziel der Menschen, das Ziel, das sie spontan verfolgt hätten, wenn sie noch die Möglichkeit dazu gehabt hätten, ausschließlich sexueller Natur war. Für uns Neo-Menschen ist das eine echte Hürde. Wir werden uns nie, wie uns die Höchste Schwester warnt, eine richtige Vorstellung von diesem Phänomen machen können. Wenn wir uns dem Verständnis der Sache nähern wollten, dürften wir nie gewisse Steuerungsmechanismen außer acht lassen, deren wichtigster darin bestand, daß das individuelle Überleben innerhalb des Menschengeschlechts, wie bei allen Tierarten, die ihm vorausgegangen waren, absolut nicht zählte. Darwins Fiktion vom »Kampf ums Leben« hatte lange die elementare Tatsache verschleiert, daß sich der genetische Wert eines Individuums, seine Fähigkeit, den Nachkommen seine Merkmale zu vererben, ganz brutal auf eine einzige Konstante reduzieren ließ: die Anzahl der Nachkommen, die er letztlich zu zeugen imstande war. Daher brauchte man sich nicht zu wundern, daß ein Tier, ein x-beliebiges Tier, bereit war, sein Glück, sein körperliches Wohlergehen und sogar sein Leben in der Hoffnung auf einen simplen Geschlechtsverkehr zu opfern: Der Wille zur Arterhaltung (um es mit einem finalistischen Begriff auszudrücken), ein starkes hormonales Steuerungssystem (wenn man den deterministischen Ansatz vorzieht) mußte sie fast unweigerlich zu dieser Entscheidung bringen. Auffallende optische Reize wie schillerndes Gefieder, lautstarkes, eindrucksvolles Balzverhalten konnten zwar dazu führen, daß die Männchen von ihren natürlichen Feinden entdeckt und gefressen wurden, dennoch wurde diese Lösung in genetischer Hinsicht systematisch bevorzugt, solange sie sich für die Fortpflanzung als wirksam erwies. Diese sich auf unveränderte biochemische Mechanismen gründende Unterordnung des einzelnen im Interesse der Arterhaltung war beim Menschen ebenso stark und wurde noch dadurch verschlimmert, daß sich der Sexualtrieb nicht mehr auf

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