Die Mglichkeit einer Insel
eigenes Leben, meine Verpflichtungen, meine Unabhängigkeit hatte — falls das der Grund gewesen sein sollte, hatte ich mich auf jeden Fall gründlich verrechnet, denn sie war weder gerührt noch verunsichert durch diesen Entschluß, sie sagte nur »Bueno …«, und das war alles. Ich glaube, mein Handeln hatte vor allem keinen rechten Sinn mehr, ich begann mich zu verhalten wie ein altes tödlich verletztes Tier, das nach allen Seiten angreift, sich an allen Hindernissen stößt, zu Boden stürzt, sich immer wütender und immer schwächer wieder aufrichtet und berauscht vom Geruch seines eigenen Blutes schließlich kopflos wird.
Ich hatte den Wunsch, Vincent wiederzusehen, als Vorwand genommen, das hatte ich Esther erklärt, und erst als ich in Roissy landete, wurde mir klar, daß ich tatsächlich Lust hatte, ihn wiederzusehen, auch hier weiß ich nicht, warum, vielleicht nur, um mich zu vergewissern, daß das Glück existiert. Er hatte sich mit Susan wieder in dem Einfamilienhaus seiner Großeltern niedergelassen — in dem Haus, in dem er letztlich sein ganzes Leben lang gewohnt hatte. Es war Ende Mai, aber der Himmel war grau, und der rote Backsteinbau wirkte ziemlich finster; ich war überrascht, als ich die Namen las, die auf dem Briefkasten standen. »Susan Longfellow«, na gut, aber »Vincent Macaury«? Ja richtig, der Prophet hieß Macaury, Robert Macaury, und Vincent hatte nicht mehr das Recht, den Namen seiner Mutter zu tragen; der Name Macaury war ihm in einem amtlichen Schreiben mitgeteilt worden, weil er einen Namen brauchte, bis die Justiz eine Entscheidung traf. »Ich bin ein Versehen…«, hatte Vincent einmal zu mir gesagt, wobei er wohl auf seine Abstammung als Sohn des Propheten anspielte. Möglicherweise, aber seine Großeltern hatten ihn aufgenommen und wie ein unschuldiges Opfer geliebt, denn sie waren bitter enttäuscht von ihrem Sohn und dessen genußsüchtigem, verantwortungslosem Egoismus — der im übrigen der einer ganzen Generation war, ehe die Sache noch schlimmer wurde und, sobald der Sinnengenuß verflogen war, nur noch der Egoismus zurückblieb. Sie hatten ihn auf jeden Fall aufgenommen, ihm die Tür zu ihrem Heim geöffnet, und das war zum Beispiel etwas, was ich für meinen eigenen Sohn nie getan hätte, allein der Gedanke daran, unter demselben Dach wie dieser kleine Arsch zu leben, ist mir unerträglich, er genau wie ich waren ganz einfach Menschen, die es nie hätte geben sollen. Im Gegensatz zu Susan, die jetzt in dieser verstaubten, überladenen, finsteren Umgebung lebte, so weit entfernt von ihrem Heimatland Kalifornien, und die sich sofort dort wohl gefühlt hatte, sie hatte nichts weggeworfen, ich erkannte die gerahmten Familienfotos, die Verdienstorden des Großvaters und die von einer Reise an die Costa Brava mitgebrachten beweglichen Stierfiguren wieder; sie hatte vielleicht ein wenig gelüftet, Blumen gekauft oder was weiß ich, ich kenne mich damit nicht aus, ich selbst habe immer in Hotels gelebt und habe keinen Sinn für das Häusliche. Ohne die Anwesenheit einer Frau wäre ich wohl nie auf diesen Gedanken gekommen, auf jeden Fall war es jetzt ein Haus, das den Eindruck machte, als könnten die Menschen darin glücklich sein, das war etwas, was in Susans Macht stand. Sie liebte Vincent, das merkte ich sofort, das war offensichtlich, aber vor allem liebte sie. Es lag in ihrer Natur zu lieben, so wie bei der Kuh das Grasen, (oder beim Vogel das Singen oder bei der Ratte das Schnuppern). Nachdem sie ihren früheren Herrn und Meister verloren hatte, hatte sie diesen fast augenblicklich durch einen neuen ersetzt, und die Welt, die sie umgab, wurde erneut von einer positiven Gewißheit erfüllt. Ich aß mit ihnen zu Abend, es war ein angenehmes, harmonisches Beisammensein mit wenig schmerzvollen Momenten; ich hatte jedoch nicht den Mut, bei ihnen zu übernachten, und verabschiedete mich gegen elf Uhr, nachdem ich ein Zimmer im Hotel Lutetia reserviert hatte.
In der Metrostation Montparnasse-Bienvenue dachte ich wieder an die Lyrik zurück, vermutlich weil ich gerade Vincent wiedergesehen hatte und mir das erneut meine eigenen Grenzen vor Augen führte: schöpferische Grenzen zum einen, aber auch Begrenzungen in der Liebe. Ich muß allerdings hinzusagen, daß ich in jenem Augenblick an einem Plakat mit der Aufschrift »Lyrik in der Metro« vorbeifuhr, und zwar genauer gesagt an jenem, auf dem »Die freie Liebe« von Andre Breton abgedruckt war. Ganz gleich, welchen Ekel
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