Die Mglichkeit einer Insel
einem Andre Breton als Mensch einflößen konnte, ganz gleich, wie dumm der Titel war, eine elende Antinomie, die abgesehen von einer gewissen Hirnerweichung nur von dem Reklame-Instinkt zeugte, der den Surrealismus kennzeichnet und auf den er sich letztlich beschränken läßt, eines mußte man anerkennen: Dieser Idiot hatte, zumindest was diesen Text anging, ein sehr schönes Gedicht geschrieben. Ich war offensichtlich nicht der einzige, der gewisse Vorbehalte empfand, denn als ich zwei Tage später an demselben Plakat vorbeifuhr, stellte ich fest, daß es mit einer Inschrift überpinselt war, die besagte: »Statt eurer beknackten Gedichte solltet ihr uns besser in den Stoßzeiten mehr Züge zur Verfügung stellen«, was genügte, um mich den ganzen Nachmittag in gute Laune zu versetzen und mir sogar wieder etwas Selbstvertrauen zu geben: Ich war zwar nur ein Komiker, aber eben doch ein Komiker.
Am Tag nach dem Abendessen bei Vincent gab ich der Rezeption des Lutetia Bescheid, daß ich das Zimmer vermutlich noch mehrere Tage lang behalten würde. Sie nahmen die Nachricht höflich und mit einem freundlichen Augenzwinkern auf. Schließlich war ich ja eine Berühmtheit; ich konnte es mir durchaus leisten, mein Geld zu verschleudern und an der Bar einen Alexandra On Ice mit Philippe Sollers oder Philippe Bouvard zu trinken — allerdings wohl nicht mit Philippe Leotard, denn er war tot; aber wie dem auch sei, aufgrund meiner Berühmtheit hätte ich garantiert Zugang zu diesen drei Kategorien von Philippes haben können. Ich konnte eine Nacht mit einer slowenischen transsexuellen Nutte verbringen; und ich konnte ein schillerndes mondänes Leben führen, vermutlich erwartete man das sogar von mir, talentierte Leute werden im allgemeinen durch ein oder zwei Werke bekannt, nicht mehr, denn im Grunde ist es ja schon erstaunlich, daß ein Mensch überhaupt ein oder zwei Dinge zu sagen hat. Anschließend finden sie sich mehr oder weniger gelassen, mehr oder weniger betrübt mit ihrem Niedergang ab, das ist von Fall zu Fall verschieden.
Ich tat jedoch in den darauffolgenden Tagen nichts von alledem; statt dessen rief ich schon am nächsten Morgen Vincent wieder an. Er begriff sehr schnell, daß der Anblick seines Eheglücks schmerzlich für mich sein könne, und schlug mir vor, uns in der Bar des Lutetia zu treffen. Er erzählte mir im Grunde nur von seinen Plänen für die Botschaft, die zu einer Rauminstallation geworden war und deren Besucher die Menschen der Zukunft sein sollten. Er hatte eine Limonade bestellt, rührte sie aber nicht an; ab und zu ging ein Promi durch die Bar, erkannte mich und gab mir ein Zeichen des geheimen Einverständnisses; Vincent merkte nichts davon. Er sprach, ohne mich anzusehen und sogar ohne darauf zu achten, ob ich ihm zuhörte, seine Stimme war bedächtig und abwesend, etwa so, als spräche er auf ein Tonbandgerät oder als mache er eine Aussage vor einem Untersuchungsausschuß. Je ausführlicher er mir seine Vorstellungen auseinandersetzte, desto klarer wurde mir, daß er sich nach und nach von seiner ursprünglichen Absicht entfernte und seine Pläne immer ehrgeiziger wurden. Jetzt ging es ihm überhaupt nicht mehr darum, ein Zeugnis davon abzulegen, was ein manierierter Autor des 20. Jahrhunderts mit dem anmaßenden Titel So lebt der Mensch überschrieben hatte. Über die Menschheit, bemerkte er, gäbe es schon viele Zeugnisse, die alle zu der gleichen jämmerlichen Feststellung kämen; mit einem Wort, dieses Thema sei bereits bekannt. Gelassen, aber ohne sich die Möglichkeit der Rückkehr offenzuhalten, verließ er das Gestade der Menschen, um einem absoluten Anderswo entgegenzusegeln, wohin ich ihm nicht folgen konnte, vermutlich war es der einzige Raum, in dem er selbst frei atmen konnte, sein Leben hatte sicher nie ein anderes Ziel gehabt, aber es war ein Ziel, das er nur allein verfolgen konnte; allerdings war er schon seit jeher allein gewesen.
Wir seien nicht mehr die gleichen, fuhr er mit sanfter Stimme fort, wir seien unvergänglich geworden; natürlich würden wir noch eine Weile brauchen, ehe wir uns an diesen Gedanken gewöhnen und uns mit ihm vertraut machen könnten, dennoch hätten sich die Dinge schon jetzt grundlegend geändert. Der Professor sei nach der Abreise aller Anhänger mit ein paar Technikern auf Lanzarote geblieben, um seine Forschungsarbeit fortzusetzen; es gebe keinen Zweifel, daß er sein Ziel erreichen werde. Der Mensch habe ein großes Gehirn, ein
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