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Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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interessant und manchmal sogar richtig fesselnd. Der menschliche Geist, erklärte er, entwickelte sich durch die Schaffung und fortschreitende chemische Verstärkung neuronaler Netzwerke von unterschiedlicher Größe, die von zwei bis fünfzig oder noch mehr Neuronen reichen konnte. Das menschliche Gehirn umfaßte mehrere Milliarden Neuronen, die Anzahl der Verbindungen und folglich der möglichen Netzwerke war daher unglaublich groß — sie übertraf zum Beispiel bei weitem die Anzahl der Moleküle des Universums.
    Die Anzahl der benutzten Netzwerke war von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich, was ihm zufolge eine ausreichende Erklärung für die unzähligen Abstufungen zwischen Dummheit und Genie bot. Noch bemerkenswerter war die Tatsache, daß ein häufig benutztes neuronales Netzwerk infolge von Ionenanhäufungen mit der Zeit immer leichter zu aktivieren war — es gab also so etwas wie eine fortschreitende Selbstverstärkung, und das gelte für alles, für die Gedanken, die Suchtabhängigkeiten, die Launen. Dieses Phänomen ließ sich sowohl an individuellen psychologischen Reaktionen wie auch an gesellschaftlichen Beziehungen nachweisen: Wenn man sich innere Widerstände bewußt machte, wurden sie dadurch verstärkt; wenn man Konflikte zwischen zwei Menschen analysierte, wurden sie dadurch im allgemeinen unlösbar. Professor ging dann zu einem gnadenlosen Angriff auf die Freudsche Theorie über, die nicht nur jeder ernstzunehmenden physiologischen Grundlage entbehrte, sondern darüber hinaus zu dramatischen Ergebnissen führte, also zu dem genauen Gegenteil dessen, was damit bezweckt wurde. Auf der Projektionsfläche hinter ihm verschwanden jetzt die verschiedenen Schemata, die seinen Vortrag illustriert hatten, und statt dessen wurde ein kurzer herzzerreißender Dokumentarfilm über das — manchmal unerträgliche — seelische Leid der Veteranen des Vietnamkriegs gezeigt. Sie konnten nicht vergessen, was sie erlebt hatten, hatten jede Nacht Alpträume, konnten nicht einmal mehr Auto fahren oder ohne fremde Hilfe über die Straße gehen, sie lebten in ständiger Angst, und es schien unmöglich, sie wieder an ein normales Gesellschaftsleben zu gewöhnen. Dann wurde uns der Fall eines gebeugten, runzligen Mannes vorgeführt, der nur noch einen dünnen roten Haarkranz hatte und wie ein Wrack wirkte: Er zitterte ununterbrochen, war nicht mehr imstande, seine Wohnung zu verlassen, und brauchte dauerhafte medizinische Unterstützung; und er litt, er litt unentwegt. In einem Schrank in seinem Eßzimmer bewahrte er einen kleinen Glasbehälter mit Erde aus Vietnam auf; jedesmal, wenn er den Schrank aufmachte und das Glas herausnahm, brach er in Tränen aus.
    »Halt«, sagte der Professor. »Halt.« Jetzt war der weinende Greis in Großaufnahme zu sehen. »Schwachsinn«, fuhr der Professor fort. »Der absolute Schwachsinn. Als erstes sollte dieser Mann das Glas mit vietnamesischer Erde nehmen und es aus dem Fenster schmeißen. Jedesmal, wenn er den Schrank aufmacht und das Glas herausnimmt — und das tut er bis zu fünfzig Mal am Tag —, verstärkt er das neuronale Netzwerk und vergrößert dadurch seinen Schmerz. Und auf die gleiche Weise erhöhen wir, immer wenn wir uns unsere Vergangenheit wieder vor Augen führen und auf eine schmerzhafte Begebenheit zurückkommen — und so läßt sich, grob gesagt, die Psychoanalyse zusammenfassen —, die Chancen, sie zu reproduzieren. Statt voranzukommen, geraten wir immer tiefer in den Abgrund. Wenn wir Kummer haben oder eine Enttäuschung erleben, die uns das Leben vergiftet, sollten wir als erstes umziehen, alle Fotos verbrennen und niemandem davon erzählen. Verdrängte Erinnerungen verblassen; das kann eine Weile dauern, aber sie verblassen tatsächlich. Das Netzwerk wird außer Betrieb gesetzt.«
    »Irgendwelche Fragen?« Nein, niemand hatte eine Frage. Sein Vortrag, der über zwei Stunden gedauert hatte, war sehr einleuchtend gewesen. Als ich den Speisesaal betrat, sah ich Patrick, der lächelnd und mit ausgestreckter Hand auf mich zukam. Ob ich einen angenehmen Flug gehabt habe und mit dem Zimmer zufrieden sei usw. Während wir uns nett unterhielten, umarmte mich eine Frau von hinten, rieb ihre Scham an meinem Hintern und legte mir die Hände auf den Unterleib. Ich drehte mich um: Fadiah hatte ihre weiße Tunika abgelegt und stand da in einem gefleckten Leoparden-Body aus Nylon; sie schien in Top-Form zu sein. Sie rieb weiter ihre Scham an meinem Körper und

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