Die Mglichkeit einer Insel
Tages zu ziehen. Viele Anhänger, die nicht blöd waren, das war eine Überraschung; und viele Frauen, die nicht häßlich waren, das war noch überraschender. Allerdings muß man dazusagen, daß sie vor nichts zurückschreckten, um sich zur Geltung zu bringen. Die Lehre des Propheten wich in dieser Hinsicht keinen Deut von dem Prinzip ab: Der Mann mußte sich bemühen, seine Männlichkeit zu zügeln (die Machohaltung hatte schon zu viele blutige Opfer in der Welt gefordert, wie er in verschiedenen Interviews, die ich mir auf seiner Website angesehen hatte, zutiefst bewegt ausgerufen hatte), die Frau dagegen durfte ihre Weiblichkeit voll ausreizen, ihrem angeborenen Exhibitionismus freien Lauf lassen und sich dabei all der glitzernden, durchsichtigen oder hautengen Kleidungsstücke bedienen, die ihr die Phantasie der Modeschöpfer zur Verfügung stellte: Nichts konnte in den Augen der Elohim angenehmer und vortrefflicher sein.
Folglich taten sie das, und beim Abendessen war bereits eine leichte, aber konstante erotische Spannung zu spüren. Ich ahnte, daß das im Laufe der Woche noch schlimmer werden würde; und ich spürte auch, daß ich nicht wirklich darunter leiden und mich damit begnügen würde, mich friedlich vollzusaufen und dabei die Nebelwände zu betrachten, die im Mondschein vorüberzogen. Die kühlen Weiden, die Milka-Kühe, der Schnee auf den Gipfeln: ein schöner Ort, um alles zu vergessen oder um zu sterben.
Am folgenden Morgen hielt der Prophet persönlich den ersten Vortrag: Ganz in Weiß, sprang er im Licht der Scheinwerfer unter donnerndem Applaus auf die Bühne — eine standing ovation zur Begrüßung. Aus der Ferne gesehen, sagte ich mir, glich er ein bißchen einem Affen — vermutlich eine Frage des Verhältnisses zwischen der Länge seiner Arme und seiner Beine oder seiner allgemeinen Haltung, ich weiß nicht, es war nur ein sehr flüchtiger Eindruck. Aber er wirkte nicht bösartig, lediglich wie ein lustvoller Affe mit flachem Schädel, das war alles.
Und er sah unzweifelhaft wie ein Franzose aus: In seinem ironischen Blick funkelte etwas Schelmisches, Spöttisches, man konnte ihn sich gut in einem Theaterstück von Feydeau vorstellen.
Seine fünfundsechzig Jahre waren ihm wirklich nicht anzusehen.
»Wie groß wird die Anzahl der Erwählten sein?« begann der Prophet ohne Umschweife. »1.729, die kleinste Zahl, die sich auf zwei verschiedene Arten in die Summe zweier Kubikzahlen zerlegen läßt? Oder 9.240, eine Zahl, die 64 Teiler besitzt? Oder 40.755, eine Zahl, die sowohl Dreiecks-, Fünfecks- und Sechseckszahl ist? Oder 144.000, wie unsere Freunde, die Zeugen Jehovas, behaupten — nebenbei gesagt, eine wirklich gefährliche Sekte?«
Als Profi mußte ich zugeben: Er zog eine gute Show ab. Dabei war ich noch nicht mal richtig wach, und der Kaffee in dem Hotel war abscheulich; aber der Prophet hatte mich gefesselt.
»Oder werden es 698.896 sein, eine Palindrom-Quadratzahl?« fuhr er fort. »Oder 12.960.000, Platons zweite geometrische Zahl? Oder 33.550.336, die fünfte vollkommene Zahl, die von einem anonymen Autor in einem mittelalterlichen Manuskript erwähnt wird?«
Er blieb genau in der Mitte des Scheinwerferlichts stehen und machte eine Pause, ehe er fortfuhr: »Derjenige wird zu den Erwählten gehören, der es sich aus ganzem Herzen wünscht« —kürzere Pause — »und sich dementsprechend verhalten hat.«
Dann kam er logischerweise auf die Bedingungen zu sprechen, unter denen man erwählt werden kann, ehe er zum geplanten Bau der Botschaft überging — das Thema lag ihm offensichtlich sehr am Herzen. Der Vortrag dauerte etwas über zwei Stunden und war wirklich gut aufgebaut, saubere Arbeit, ich klatschte ebenso begeistert Beifall wie die anderen. Ich saß neben Patrick, der mir ins Ohr flüsterte: »Dieses Jahr ist er wirklich in Form…«
Als wir den Konferenzsaal verließen, um zum Essen zu gehen, kam Flic auf uns zu. »Der Prophet lädt dich an seinen Tisch ein …«, sagte er ernst zu mir. »Und dich auch, Patrick…«, fügte er hinzu; dieser errötete vor Freude, während ich eine kleine Atemübung machte, um mich zu entspannen. Auch wenn er es nicht mit böser Absicht tat, jagte Flic einem unweigerlich einen Schrecken ein, selbst wenn er eine gute Nachricht ankündigte.
Dem Propheten war ein ganzer Flügel des Hotels mit eigenem Speisezimmer vorbehalten. Während wir vor dem Eingang warteten, wo ein Mädchen mit einem Walkie-talkie Botschaften austauschte, kam
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