Die Mglichkeit einer Insel
Vincent, der VIP der Bildenden Kunst, in Begleitung eines Untergebenen von Flic dazu.
Der Prophet malte, und der gesamte Flügel des Hotels war mit seinen Werken dekoriert, die er für die Dauer des Seminars aus Kalifornien hatte herbringen lassen. Auf den Gemälden waren nur nackte oder leicht bekleidete Frauen in unterschiedlichen Landschaften abgebildet, von Tirol bis zu den Bahamas; mir wurde da auch klar, woher die Illustrationen in den Broschüren und auf der Website stammten. Als wir durch den Flur gingen, bemerkte ich, daß Vincent den Blick von den Bildern abwandte und Mühe hatte, seinen Ekel zu verbergen. Als ich mir die Bilder aus der Nähe ansah, wich ich ebenfalls angewidert zurück: Das Wort Kitsch war viel zu schwach, um diese Werke zu charakterisieren; ich glaube, ich hatte noch nie etwas so Häßliches gesehen.
Der Höhepunkt der Ausstellung erwartete uns im Eßzimmer, einem großen Raum mit riesigen Fenstern, die den Blick auf die Berge freigaben: Hinter dem Sitzplatz des Propheten hing ein Bild von acht mal vier Metern, auf dem er umgeben von zwölf jungen Frauen abgebildet war, die durchsichtige Tuniken trugen und die Arme nach ihm ausstreckten — einige von den Frauen zeigten einen Ausdruck glühender Verehrung, andere stellten ein Mienenspiel zur Schau, das erheblich aufreizender war. Es waren weiße und schwarze Frauen, eine Asiatin und zwei Inderinnen; wenigstens war der Prophet kein Rassist. Dagegen hatte er ganz offensichtlich etwas für große Brüste übrig und liebte üppiges, dichtes Schamhaar; kurzum, der Mann hatte eine Vorliebe für einfache Dinge.
Während wir auf den Propheten warteten, stellte mir Patrick Gerard vor, den Humoristen und vierten Mann in der Hierarchie der Organisation. Er verdankte dieses Vorrecht der Tatsache, daß er schon vor siebenunddreißig Jahren an der Seite des Propheten gewesen und ihm trotz diverser überraschender Kehrtwendungen immer treu geblieben war. Von den »vier Weggefährten der ersten Stunde« war einer gestorben, ein anderer Adventist und der dritte vor einigen Jahren abtrünnig geworden, als der Prophet beim zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen seine Anhänger aufgefordert hatte, für Jean-Marie Le Pen und gegen Jacques Chirac zu stimmen, »um den Auflösungsprozeß der französischen Pseudodemokratie zu beschleunigen« — ähnlich wie die Maoisten in ihrer Blütezeit aufgerufen hatten, Giscard und nicht Mitterand zu wählen, um die Widersprüche des Kapitalismus zu verschärfen. Es blieb also nur noch Gerard, und seine langjährige Treue hatte ihm ein paar Privilegien eingebracht, wie zum Beispiel das Recht, jeden Tag mit dem Propheten zu Mittag zu essen — was weder dem Professor noch Flic vergönnt war — oder ab und zu eine ironische Bemerkung über das Aussehen des Propheten machen zu dürfen — er sprach zum Beispiel von seinem »dicken Arsch« oder von seinen »Gucklöchern, um die ihn jede Kuh beneidete«. Im Gespräch stellte sich heraus, daß Gerard mich gut kannte, alle meine Auftritte gesehen und meine Karriere von Anfang an verfolgt hatte. Der Prophet dagegen, der in Kalifornien lebte und sich nicht im geringsten für kulturelle Ereignisse interessierte (die einzigen Schauspieler, deren Namen er kannte, waren Tom Cruise und Bruce Willis), hatte noch nie etwas von mir gehört; ich verdankte also meinen Status als VIP ausschließlich Gerard. Er kümmerte sich auch um die Presse und machte die PR-Arbeit.
Schließlich kam der Prophet frisch geduscht mit federndem Schritt in Jeans und einem T-Shirt mit der Aufschrift »Lick my balls« und einer Tasche über der Schulter herein. Alle standen auf; ich tat dasselbe. Er kam mit ausgestreckter Hand auf mich zu und fragte mit breitem Lächeln: »Na, wie fandest du mich?« Ich war einen Augenblick baff, bis mir klar wurde, daß es keine Fangfrage war: Er redete mit mir wie unter Kollegen. »Äh … gut. Ehrlich gesagt sehr gut…«, antwortete ich. »Mir hat vor allem der Einstieg mit den Zahlenspielereien über die Anzahl der Erwählten gut gefallen.« »Ach ja, ha, ha, ha! …«, er zog ein Buch aus der Tasche: Mathematische Basteleien von Jostein Gaarder: »Da steht alles drin!« Er rieb sich die Hände, setzte sich und machte sich sogleich über die geriebenen Möhren her; wir taten es ihm gleich.
Vermutlich mir zu Ehren drehte sich die Unterhaltung anschließend um Komiker. Der Humorist kannte sich damit gut aus, aber auch der Prophet war nicht ganz unbewandert auf
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