Die Mglichkeit einer Insel
erkundigte sich ebenfalls nach meinen ersten Eindrücken. Patrick sah der Szene gutmütig zu. »Ach, das macht sie mit allen …«, sagte er zu mir, während wir auf einen Tisch zugingen, an dem bereits ein breitschultriger Mann um die Fünfzig mit grauem dichtem Haar mit Bürstenschnitt saß. Er stand auf, um mich zu begrüßen, schüttelte mir die Hand und betrachtete mich aufmerksam. Während des Essens sagte er nicht viel, begnügte sich damit, ab und an eine Einzelheit über den technischen Ablauf des Seminars hinzuzufügen, aber ich spürte, daß er mich eingehend musterte. Er hieß Jerôme Prieur, aber ich gab ihm gleich den Spitznamen Flic. Er war die rechte Hand des Propheten, er war der zweite Mann der Organisation (sie nannten das natürlich anders, trugen alle möglichen Titel wie etwa »Erzbischof des siebten Rangs«, aber das war damit gemeint). Man wurde nach Dauer der Zugehörigkeit und Verdienst befördert, wie in allen Organisationen, sagte er zu mir, ohne zu lächeln; nach Dauer der Zugehörigkeit und Verdienst. Der Professor zum Beispiel war, obwohl erst seit fünf Jahren Elohimit, der dritte Mann. Den vierten Mann müsse er mir unbedingt vorstellen, sagte Patrick, er schätze meine Arbeit sehr, er habe selbst viel Humor. »Ach, der Humor …«, hätte ich fast erwidert.
Den Nachmittagsvortrag hielt Odile, eine Frau um die Fünfzig, die ein ähnliches Sexualleben hinter sich hatte wie Catherine Millet und ihr im übrigen ein wenig glich. Sie wirkte sehr sympathisch, wie eine Frau ohne Probleme — auch darin ähnelte sie Catherine Millet —, aber ihr Vortrag war ein bißchen lasch. Ich wußte, daß es Frauen gab, die einen ähnlichen Geschmack wie Catherine Millet hatten — ich schätzte ihre Zahl auf etwa eine pro hunderttausend, eine Proportion, die mir eine Invariante innerhalb der Geschichte zu sein schien und sich auch wohl nicht ändern würde. Odile wurde etwas lebhafter, als sie die Ansteckungsmöglichkeiten durch den Aidserreger im Hinblick auf die jeweilige Körperöffnung ansprach — das war offensichtlich ihr Lieblingsthema, sie hatte dafür eine regelrechte Statistik zusammengestellt. Sie war Vizepräsidentin des Vereins »Paare gegen Aids«, der sich bemühte, zu diesem Thema eine gezielte Aufklärungskampagne zu führen — um den Leuten zu erlauben, nur dann ein Kondom zu benutzen, wenn es absolut unerläßlich war. Ich selbst hatte noch nie ein Kondom benutzt, und angesichts meines Alters und der ständigen Weiterentwicklung der Kombinationstherapie würde ich wohl kaum darauf zurückgreifen — vorausgesetzt, ich hatte überhaupt wieder die Möglichkeit zu vögeln; in dem Stadium, in dem ich mich befand, erschien mir sogar die Aussicht zu vögeln, mit Lust zu vögeln, völlig ausreichend, um ein baldiges Ende in Betracht zu ziehen.
Der Vortrag zielte im wesentlichen darauf ab, die Einschränkungen und Zwänge aufzuzählen, die es bei den Elohimiten in bezug auf die Sexualität gab. Die Antwort war ziemlich einfach: es gab keine — es war eine Sache des gegenseitigen Einverständnisses unter Erwachsenen, wie man so schön sagt.
Diesmal gab es Fragen. Die meisten bezogen sich auf die Pädophilie, eine Praktik, die den Elohimiten schon mehrere Prozesse eingebracht hatte — aber wer hat heutzutage noch keinen Prozeß wegen Pädophilie am Hals gehabt? Der Standpunkt des Propheten, den Odile hier in Erinnerung rief, war eindeutig: Es gibt eine Phase im Leben des Menschen, die man die Pubertät nennt und in der das sexuelle Begehren in Erscheinung tritt — das Alter war je nach Person und geographischer Situation unterschiedlich, lag aber im allgemeinen zwischen elf und vierzehn. Mit jemandem zu schlafen, der es nicht begehrte oder der nicht imstande war, sein Einverständnis deutlich zu formulieren, also mit jemandem in der Vorpubertät, war moralisch zu verurteilen; was jedoch nach der Pubertät stattfand, entzog sich selbstverständlich jedem moralischen Urteil, und darüber ließ sich weiter so gut wie nichts sagen. Der Nachmittag dämmerte mit dem Sieg des gesunden Menschenverstands dahin, und ich hatte allmählich Lust auf einen Aperitif; in dieser Hinsicht waren sie wirklich ein bißchen beknackt. Zum Glück hatte ich einen Vorrat in meinem Koffer, und als VIP hatte man mir natürlich ein Einzelzimmer reserviert. Als ich nach dem Abendessen allein in meinem Kingsize-Bett mit makellos weißen Laken in leichter Trunkenheit versank, versuchte ich, eine Bilanz dieses ersten
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