Die Mglichkeit einer Insel
zu antworten. Ich hatte diesen Mut einfach nicht. Dabei war ich sehr ehrgeizig, aber es kann sein, daß Dekorateure im Grunde noch ehrgeiziger sind als Revolutionäre. Vor Duchamp bestand das höchste Ziel des Künstlers darin, eine persönliche, aber zugleich exakte, das heißt aufrüttelnde Sichtweise der Welt zu vertreten; das war bereits ein äußerst ehrgeiziger Anspruch. Seit Duchamp begnügt sich der Künstler nicht mehr damit, eine bestimmte Sichtweise der Welt zu vertreten, sondern er bemüht sich, seine eigene Welt zu schaffen; er wird zum Rivalen Gottes. In meinem Keller bin ich Gott. Ich habe beschlossen, ein leicht zugängliches kleines Universum zu schaffen, in dem man nur dem Glück begegnet. Der regressive Charakter meiner Arbeit ist mir völlig bewußt; ich weiß, daß man sie mit der Haltung der Jugendlichen vergleichen kann, die sich für ihre Briefmarkensammlung, ihr Herbarium oder sonst irgendeine begrenzte Welt in schillernden Farben begeistern, anstatt sich mit den Problemen der Jugend auseinanderzusetzen. Niemand wagt es, mir das offen ins Gesicht zu sagen, ich habe gute Kritiken in Art Press wie auch in den meisten europäischen Medien; aber ich habe die Verachtung im Blick der jungen Frau vom Ministerium gesehen. Sie war schlank, stark gebräunt und ganz in weißes Leder gekleidet — äußerst sexy; ich habe sofort gemerkt, daß sie mich wie ein kleines, behindertes, sehr krankes Kind betrachtete. Sie hat recht: Ich bin ein kleines, behindertes, sehr krankes Kind, das nicht lebensfähig ist. Ich kann mich der Brutalität der Welt nicht stellen; es gelingt mir einfach nicht.«
Als ich wieder im Hotel Lutetia war, hatte ich Mühe einzuschlafen. Vincent hatte ganz offensichtlich jemanden in seinen Kategorien vergessen. Genau wie der Revolutionär stellt sich der Humorist der Brutalität der Welt und antwortet darauf mit noch größerer Brutalität. Seine Aktion zielt jedoch nicht darauf ab, die Welt zu verändern, sondern sie ganz einfach annehmbar zu machen, indem er die Gewalt, die für jede revolutionäre Aktion erforderlich ist, in Lachen verwandelt — und nebenbei auch eine ganze Menge Kohle macht. Kurz gesagt, wie alle Spaßmacher und Hofnarren seit Urzeiten war ich eine Art Kollaborateur. Ich ersparte der Welt schmerzhafte und überflüssige Revolutionen — denn die Wurzel aller Übel war biologisch bedingt und unabhängig von jeder erdenklichen Form gesellschaftlicher Veränderung; ich sorgte für Klarheit, verhinderte aber die Aktion und vernichtete die Hoffnung; meine Bilanz war ziemlich gemischt.
Innerhalb weniger Minuten hielt ich mir meine ganze Karriere und insbesondere meine Filmkarriere noch einmal vor Augen. Rassismus, Pädophilie, Kannibalismus, Vatermord, Folterung und barbarische Handlungen: In knapp zehn Jahren hatte ich fast alle zugkräftigen Themen abgehakt. Es war wirklich seltsam, sagte ich mir noch einmal, daß die Verbindung von Bosheit und Lachen in der Filmbranche als echte Neuerung betrachtet wurde; sie lasen wohl nicht oft Baudelaire in diesem Milieu.
Dann blieb noch die Pornographie, an der sich alle die Zähne ausgebissen hatten. Sie schien bisher noch jedem Versuch, die Sache auf ein höheres Level zu bringen, zu widerstehen. Weder eine virtuose Kameraführung noch eine raffinierte Beleuchtung hatten etwas daran ändern können: Im Gegenteil, sie schienen eher ein Handikap zu sein. Auch ein ans Dogma 95 angelehnter Versuch mit Handkameras und Bildern aus einer Videoüberwachung war nicht erfolgreicher: Die Leute wollten Bilder, die scharf und deutlich waren. Häßlich, aber scharf und deutlich. Die Versuche, »anspruchsvolle Pornographie« zu produzieren, waren an Lächerlichkeit kaum zu überbieten und kommerziell ein totaler Flop. Die alte Devise der Marketingspezialisten »Natürlich wollen die Leute Standardprodukte, das hält sie aber nicht davon ab, unsere Luxusartikel zu kaufen« schien diesmal endgültig widerlegt zu sein, und der Sektor, der immerhin einer der lukrativsten der Filmbranche war, wurde obskuren ungarischen oder gar lettischen Stümpern überlassen. Zu der Zeit, als ich »Gras mir den Gazastreifen ab« drehte, hatte ich zu Dokumentarzwecken einen Nachmittag lang den Dreharbeiten eines der letzten noch aktiven französischen Filmemacher namens Ferdinand Cabarel zugeschaut. Es war keine vergeudete Zeit — auf menschlicher Ebene, meine ich. Trotz seines Namens, der auf eine Herkunft aus dem Südwesten Frankreichs schließen ließ,
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