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Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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hatte inzwischen die Höhe der Fensterrose der Kathedrale erreicht. Unter dem Applaus der Anwesenden gaben sich die beiden einen langen jungfräulichen und zugleich sehr intimen Kuß — ich sah, wie kleine Hände winkten. Im Hintergrund hoben Köche die Deckel von dampfenden Gerichten, das Gemüse bildete kleine farbige Flecken auf dem Reis. Knallkörper explodierten und es erklangen schmetternde Fanfaren.
    Dann wurde es wieder dunkel, und ich schlug einen kaum zu erkennenden Weg ein, eine Art Fährte im Wald, umgeben von raschelndem grünen und goldenen Laub. Hunde tummelten sich auf der Engelslichtung, wälzten sich in der Sonne auf dem Boden. Später waren die Hunde mit ihren Herren zusammen, beschützten sie mit liebevollem Blick, und anschließend waren sie tot, und auf der Lichtung erhoben sich kleine Stelen — zum Gedenken an die Liebe, an die Spaziergänge in der Sonne und die geteilte Freude. Kein Hund war vergessen worden: ihr Relieffoto schmückte die Stelen, vor die die Herren das Lieblingsspielzeug ihres Hundes gelegt hatten. Es war ein fröhlicher Moment, ohne Tränen.
    In der Ferne bildeten sich in goldenen Lettern Worte, die scheinbar an zitternden Vorhängen befestigt waren. Das Wort »LIEBE«, das Wort »GÜTE«, das Wort »ZÄRTLICHKEIT«, das Wort »TREUE«, das Wort »GLÜCK«. Sie tauchten aus völliger Dunkelheit auf, nahmen eine mattgoldene Färbung an, die immer intensiver wurde, bis sie blendende Helle erreichten; dann verblaßten sie wieder eines nach dem anderen, folgten aber einander in ihrem Aufstieg zum Licht, so daß es aussah, als hätten sie sich gegenseitig hervorgebracht. Geleitet vom Licht, das nach und nach alle Winkel des Raums erhellte, ging ich weiter durch den Keller. Es folgten andere Szenen, andere Visionen, so daß ich allmählich das Zeitgefühl verlor und erst wieder richtig zu mir kam, als ich draußen auf einer Gartenbank aus Korb an einer Stelle saß, an der sich früher vielleicht einmal eine Terrasse oder ein Wintergarten befunden hatte. Die Dunkelheit legte sich über das Baugelände; Vincent hatte eine Lampe mit einem großen Lampenschirm angezündet. Ich war sichtlich mitgenommen, er stellte mir, ohne daß ich ihn darum bitten mußte, ein Glas Cognac hin.
    »Die Schwierigkeit liegt darin, daß ich damit keine Ausstellung mehr machen kann…«, sagte er. »Es muß viel zu viel eingestellt werden, und es ist so gut wie unmöglich, die Installation zu transportieren. Eine Frau aus der Abteilung Bildende Kunst vom Ministerium ist hergekommen; die überlegen sich, ob sie nicht einfach das Haus kaufen, Videos machen und sie dann verkaufen.«
    Ich begriff, daß er den praktischen oder finanziellen Aspekt der Sache aus reiner Höflichkeit anschnitt, um die Unterhaltung wieder auf ein normales Gleis zu lenken — es war völlig klar, daß materielle Fragen in seiner Situation, hart an der Grenze des emotionalen Überlebens, nur noch eine begrenzte Bedeutung haben konnten. Ich wußte nichts darauf zu erwidern, wackelte mit dem Kopf und schenkte mir ein weiteres Glas Cognac ein; seine Selbstbeherrschung in diesem Augenblick wirkte geradezu erschreckend auf mich.
    »Es gibt einen berühmten Satz«, fuhr er fort, »der Künstler in zwei Kategorien einteilt: die Revolutionäre und die Dekorateure. Man darf sagen, daß ich mich für die Dekorateure entschieden habe. Allerdings habe ich im Grunde keine andere Wahl gehabt, das Leben hat die Sache für mich entschieden. Ich erinnere mich noch an meine erste Ausstellung in der Galerie Saatchi in New York für die Aktion ›Feed the people. Organize them‹ — sie hatten den Titel übersetzt. Ich war ziemlich beeindruckt, es war das erstemal seit langer Zeit, daß ein französischer Künstler in einer bedeutenden New Yorker Galerie ausstellte. Damals war ich auch noch ein Revolutionär und vom revolutionären Wert meiner Arbeit überzeugt. Es war ein eiskalter Winter in New York, jeden Morgen fand man auf den Straßen erfrorene Penner; ich war überzeugt, die Leute würden, nachdem sie meine Arbeit gesehen hatten, sofort ihre Einstellung ändern, auf die Straße gehen und die Aufforderung wörtlich befolgen, die auf dem Bildschirm zu lesen war. Selbstverständlich geschah nichts von alledem: Die Leute kamen, nickten, wechselten ein paar kluge Worte und gingen wieder.
    Ich nehme an, daß Revolutionäre fähig sind, sich der Brutalität der Welt zu stellen, und darüber hinaus imstande sind, mit noch größerer Brutalität darauf

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