Die Mglichkeit einer Insel
zu essen. Organisiert sie.«
»Das ist mein erstes Werk, das wirklich Erfolg hatte …«, erklärte er. »Anfangs war ich noch von Joseph Beuys beeinflußt, insbesondere von seiner Aktion: ›Dürer, ich führe persönlich Baader + Meinhof durch die documenta V‹. Das war in den siebziger Jahren, als die Terroristen der RAF in ganz Deutschland gesucht wurden. Damals war die »documenta« in Kassel die bedeutendste Ausstellung zeitgenössischer Kunst in der ganzen Welt; Beuys hatte zwei Schilder mit diesem Satz im Eingang der Ausstellung aufgestellt, um anzuzeigen, daß er bereit war, Baader oder Meinhof, wann immer sie wollten, durch die Ausstellung zu führen, um ihre revolutionäre Energie in eine positive Kraft zu verwandeln, die der ganzen Gesellschaft zugute kam. Das war absolut ernst gemeint, und darin liegt die Schönheit dieser Geste. Selbstverständlich sind weder Baader noch Meinhof gekommen: Zum einen erschien ihnen die zeitgenössische Kunst als eine Verfallserscheinung der Bourgeoisie, und zum anderen fürchteten sie, es könne sich um eine Falle der Polizei handeln — was im übrigen durchaus möglich war, denn der »documenta« kam keinerlei besonderer Status zu; aber Beuys in seinem damaligen Größenwahn hatte vermutlich nicht einmal an die Existenz der Polizei gedacht.«
»Ich erinnere mich noch an irgend etwas im Zusammenhang mit Duchamp … Eine Gruppe, ein Spruchband mit einem Satz in der Art: ›Das Schweigen von Marcel Duchamp wird überbewertet.‹«
»Ja, genau; der Satz war ursprünglich auf deutsch verfaßt. Aber das ist genau das Prinzip der Aktionskunst: Es geht darum, eine wirksame Parabel zu schaffen, die anschließend mehr oder weniger abgewandelt von anderen aufgegriffen wird, um indirekt die gesamte Gesellschaft zu verändern.«
Natürlich war ich jemand, der das Leben, die Gesellschaft und die Dinge kannte; aber ich besaß nur eine alltägliche Kenntnis, die sich auf die geläufigen Motivationen der menschlichen Maschine beschränkte; meine Sicht war die eines scharfen Beobachters gesellschaftlicher Ereignisse, also die eines Balzac-Anhängers der Kategorie medium light; es war eine Weltsicht, in der Vincent keinen zuweisbaren Platz hatte, und zum erstenmal seit Jahren, ja, im Grunde zum erstenmal seit meiner Begegnung mit Isabelle fühlte ich mich leicht verunsichert. Seine Worte erinnerten mich an das Werbematerial von Zwei Fliegen später, insbesondere an die T-Shirts. Auf jedem von ihnen war ein Zitat aus Pierre Louys' Handbuch des guten Benehmens für kleine Mädchen — zur Verwendung in Erziehungsheimen abgedruckt, der Lieblingslektüre des Filmhelden. Insgesamt waren es etwa zwölf verschiedene Zitate; die T-Shirts waren aus einer neuartigen glitzernden, etwas durchsichtigen Faser hergestellt, die so leicht war, daß das T-Shirt in einer Zellophanhülle zusammen mit der Nummer von Lolita verkauft werden konnte, die kurz vor der Premiere des Films herausgekommen war. Bei der Gelegenheit hatte ich Isabelles Nachfolgerin kennengelernt, eine total unfähige Schnepfe, die kaum imstande war, ihr Kennwort für den Computer im Gedächtnis zu behalten; trotzdem lief die Zeitschrift gut. Das Zitat, das ich für Lolita ausgesucht hatte, hieß: »Einem Armen ein paar Groschen zu geben, weil er nichts zu essen hat, ist gut; aber ihm einen zu blasen, weil er keine Geliebte hat, ist zuviel: das muß nicht sein.«
Also, sagte ich zu Vincent, im Grunde habe ich Aktionskunst gemacht, ohne es zu wissen. »Ja, ja…«, erwiderte er unsicher. In diesem Augenblick bemerkte ich leicht verlegen, daß er errötete; das war rührend und ein bißchen erschreckend. Gleichzeitig wurde mir klar, daß vermutlich noch nie eine Frau dieses Haus betreten hatte; denn eine Frau hätte als erstes die Inneneinrichtung geändert und wenigstens ein paar der Gegenstände weggeräumt, die eine Atmosphäre schafften, die nicht nur verstaubt wirkte, sondern sogar etwas von einer Leichenhalle hatte.
»Ab einem gewissen Alter ist es gar nicht mehr so leicht, Beziehungen zu unterhalten, finde ich …«, sagte er, als habe er meine Gedanken erraten. »Man hat kaum noch Gelegenheit und nicht mehr soviel Lust auszugehen. Und außerdem sind so viele Dinge zu erledigen, Formalitäten, Behördengänge … Einkäufe, Wäsche waschen. Und man braucht mehr Zeit, um die Gesundheit zu pflegen und körperlich einigermaßen in Form zu bleiben. Ab einem gewissen Alter geht es vor allem darum, das Leben zu managen.«
Seit
Weitere Kostenlose Bücher