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Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Titel: Die Mittagsfrau: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Franck
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verdient. Mit diesen Händen hier, siehst du? Kein Deutscher darf jetzt seine Hände in den Schoß legen. Verzagen und Klagen, das ist unsere Sache nicht. Du wirst meine Frau, und ich gebe dir meinen Namen.
    Helene schüttelte den Kopf.
    Du zögerst? Du willst dich doch nicht aufgeben, Alice, sag mir das nicht. Er sah sie streng und ungläubig an.
    Wilhelm, ich verdiene deine Liebe nicht, ich habe ihr nichts zu erwidern.
    Das kommt noch, Alice, da bin ich sicher. Wilhelm sagte es ganz frei und klar, als läge es nur an einer Abmachung, einer Entscheidung, die sie einigen würde, nichts an ihrer Aussage schien ihn zu kränken oder auch nur gering zu verunsichern. Sein Wille würde siegen, der Wille, Wille schlechthin. Ob sie gar keinen habe? Natürlich braucht ein Weib eine gewisse Zeit nach so einem Verlust, sagte er. Ihr wolltet heiraten, du und dieser Junge. Aber das ist jetzt Jahre her, du musst die Zeit der Trauer einmal beschließen, Alice.
    Helene hörte Wilhelms Worte, die ihr sogleich dumm und dreist erschienen, mit denen er über sie hinwegredete. Seine Erhabenheit und der Befehl, der in seinen Worten lag, empörte sie. Es gab Worte, die musste man sich aufheben. Etwas an seinem Heldenmut erschien Helene verdächtig, etwas schien ihr daran von Grund auf falsch. Im nächsten Augenblick erschrak Helene über sich selbst. War sie missgünstig? Wilhelm war frohgemut, sie würde von ihm lernen können. Helene bereute ihren Ärger wie ihre Ablehnung. War es nicht nur ihre Trauer um Carl, eine weibische Trauer, wie Wilhelm sie freundlich nannte, die Helene seinen Glanz und seine Lebenslust so schwer ertragen ließ?
    Woran denkst du, Alice? Die Zukunft liegt zu unseren Füßen, wir wollen nicht nur an uns denken, denken wir an das Gemeinwohl, Alice, an das Volk, an unser Deutschland.
    Sie wollte nicht kleinmütig sein, bestimmt nicht bitter. Das Leben hatte sie nicht gekränkt, es gab keinen Gott, der sie büßen lassen wollte. Wilhelm meinte es gut mir ihr, er meinte es gut mit sich, und das konnte sie ihm nicht verübeln. Wie konnte sie nur so hochmütig sein? Schließlich stimmte, was er sagte, sie musste das Leben wieder aufnehmen, da half die Pflege und Sorge um die Kranken vielleicht wenig. Allein, ihr fehlte eine Vorstellung vom Leben, von dem, was es sein sollte und konnte. Sie würde sich für diesen Zweck einem Menschen zuwenden müssen. Und warum nicht einem, der es gut mit ihr meinte, der froh über ihr Ja wäre und sie retten wollte? Immerhin wusste Wilhelm offenbar, was er wollte, er zielte vor und war dem Glauben nicht nur nah, er glaubte. Das Wort Deutschland klang aus seinem Mund wie eine Losung. Wir. Wer waren wir? Wir waren wer. Nur wer? Bestimmt konnte sie das Küssen wieder lernen, vor allem einen Geruch wahrnehmen und mögen, ihre Zähne und ihre Lippen öffnen und die Bewegungen seiner Zunge in ihrem Mund spüren, vielleicht kam es darauf an.
    Wilhelm umwarb Helene unermüdlich. Es wirkte, als würde jede Ablehnung ihrerseits ihm neue Kraft verleihen. Er fühlte sich zu großen Taten, am liebsten zum Retten geboren, und als Erstes lag ihm daran, dieses in seinen Augen schüchterne und anmutige Wesen für ein gemeinsames Leben zu gewinnen.
    Ich habe zwei Karten für die Krolloper, die verdanken wir meinen guten Beziehungen. Du möchtest sie doch sehen, die ersten Fernsehbilder?
    Helene ließ sich nicht überreden. Sie hatte in der Woche fast ausschließlich Nachtdienste, daran führte kein Weg vorbei.
    Als Martha die Nachricht überbrachte, dass das Mariechen einen gewissen Vorfall nicht hatte verhindern können, und die Polizei auf dem Kornmarkt in Bautzen eine erst weinende und dann tobende Frau aufgelesen und mitgenommen hatte, wurde Helene unruhig. Leontine telefonierte nach Bautzen, erst mit dem Mariechen, dann mit dem Krankenhaus und schließlich mit der Gesundheitsbehörde. Sie erfuhr, dass Selma Würsich zum Schloss Sonnenstein nach Pirna gebracht worden war, wo man herausfinden wollte, welches Leiden sie quälte, und mittels neuer Untersuchungen klären wollte, ob dieses Leiden erblich war.
    Helene packte ihre Sachen, und Wilhelm sah seine Stunde gekommen. Er würde sie nicht allein fahren lassen, sie brauchte ihn, das sollte sie wissen.
    Im Zug setzte sich Wilhelm Helene gegenüber. Ihr fiel auf, wie zuversichtlich er sie ansah. Schöne Augen hatte er, was für schöne. Wie lang hatte sie ihre Mutter schon nicht gesehen, zehn Jahre, elf? Helene fürchtete sich, ob sie die Mutter

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