Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
gefragt hatten, ob sie mitkommen wolle. Sie hatte während der Vorstellung weinen müssen, und es war ihr unangenehm gewesen. Früher hatte sie im Kino nicht geweint. Also schüttelte sie den Kopf.
Ja oder nein, fragte Wilhelm.
Nein, sagte Helene.
Wilhelm bat Helene, mit ihm tanzen zu gehen. Eines Tages war ihr der Widerstand zu mühsam, und sie willigte ein, und sie gingen zum Ball, und er nahm ihr Gesicht in seine Hände, und er küsste ihre Stirn und sagte ihr, er habe sich verliebt.
Helene war nicht froh, sie schloss ihre Augen, um nicht angesehen zu werden. Wilhelm verstand es als Anmut, als Einverständnis, als Ankündigung ihrer nahenden Hingabe. Es war nur gut, dass Wilhelm nicht wusste, mit welcher Leidenschaft Helene die Küsse von Carl erwidert und gelockt hatte. SA-Truppen stürmten den Roten Block in Wilmersdorf, Schriftsteller und Künstler wurden dort verhaftet, ein paar ihrer Bücher wurden verbrannt, und es wurde Frühling, und mehr Bücher wurden verbrannt. Über Martha hörte Helene, dass der Baron zu den Verhafteten gehörte, Pina wollte um jeden Preis etwas über die Gründe der Verhaftung in Erfahrung bringen und suchte jeden seiner Bekannten auf mit der Bitte, er möge ihr helfen. An einem Tag hieß es, er stehe im Kontakt mit der Kommunistischen Partei, am nächsten, er habe Flugblätter der Sozialdemokraten verteilt. Wilhelm wartete nicht, ob Helene seine Gefühle erwiderte, das eigene Begehren füllte ihn aus, das genügte ihm. Alice nannte er sie, obwohl er längst wusste, dass sie Helene hieß. Alice, das war sein Name für sie.
Im Frühling organisierte die neu gewählte Regierungspartei der Nationalsozialisten einen Boykott, es galt, unnütze Esser, gewisse Parasiten durch Aushungern darben zu lassen, niemand sollte beim jüdischen Händler kaufen und sich beim jüdischen Schuster seine Schuhe besohlen lassen, keiner einen jüdischen Arzt aufsuchen und niemand den Rat eines jüdischen Anwalts einholen. Es könne nicht sein, dass der deutsche Mann keine Arbeit finde und andere sich in Fettlebe rekelten, das erklärte der Oberarzt seinen Schwestern. Die Schwestern nickten, einigen fiel ein besonderes Beispiel für die ungerechte Verteilung ein. Die kesse Schwester, von der jeder wusste, dass sie jüdisch war, hatte letzte Woche überraschend ihre Kündigung erhalten. Niemand sah sich nach ihr um, keiner vermisste sie. War ihre Familie nicht wohlhabend genug, warum sollte sie noch arbeiten? Mit ihrem Verschwinden wurde nicht mehr von ihr gesprochen. Ihren Platz nahm jetzt eine andere Schwester ein. Überhaupt wurde viel von Platz gesprochen, vom Volk und seinem angemessenen Raum.
Wilhelm holte Helene vom Dienst ab, wie immer hatte sie zehn Stunden gearbeitet und war mit zwei Pausen elf Stunden lang im Krankenhaus gewesen, er führte sie am Arm in die Konditorei und obwohl es bereits sechs Uhr am Abend war, bestellte Wilhelm Kuchen und Kaffee. Er zog Helene über den Tisch zu sich heran, sie müsse ein Geheimnis wahren. Er sei nicht nur für den Bau der 4 a Berlin – Stettin verantwortlich, sie werde sehen, eines Tages werde man bis nach Königsberg kommen! Wilhelms Augen glitzerten. Seine Stimme wurde jetzt noch leiser: Das Geheimnis sei aber dieses, die Wahl sei ausgerechnet auf ihn gefallen. Er habe den Auftrag erhalten, das unter seiner Aufsicht entwickelte Funkgerät dem Stettiner Flugplatz zu übergeben und den Peilsender an dem außerordentlich hohen Mast anbringen zu lassen. Der Flughafen sollte für die Luftwaffe ausgebaut werden. Wilhelm strahlte, er sah nicht stolz aus, eher verwegen und kühn. Seine Augen erkannten und versprachen Abenteuer. Wie selbstverständlich nahm Wilhelm ihre Kuchengabel, stach ein Stück des Kuchens ab und führte es zu ihrem Mund. Seine Tätigkeit habe sich so stark in Richtung Pommern verlagert, dass man ihm nahegelegt habe, seinen Wohnsitz dorthin zu verlegen.
Helene nickte, sie beneidete Wilhelm nicht um seine Lebensfreude und die Begeisterung, den Glauben, etwas Wichtiges für das Volk, die Menschheit, insbesondere den technischen Fortschritt tun zu dürfen. Seine Freude gefiel ihr, die Leichtigkeit, mit der er lachte und sich auf die Schenkel klopfte, die war angenehm rücksichtslos, wie das Kichern der Schwestern.
Freust du dich? Das fragte Wilhelm Helene und ließ den Arm mit der Gabel sinken, als er bemerkte, dass sie keine Miene verzog und auch den Mund für den Kuchen nicht öffnete.
Bitte frag mich nicht. Helene blickte von der
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