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Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Titel: Die Mittagsfrau: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Franck
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erkennen würde, wie sie aussehen mochte und ob die Mutter sie erkannte. Wilhelm nahm ihre Hand. Sie neigte ihren Kopf und legte ihr Gesicht an seine Hand. Wie warm seine Hand war. Dass er bei ihr war, empfand sie als Geschenk. Sie küsste seine Hand.
    Meine tapfere Alice, sagte er. Sie hörte die Zärtlichkeit aus seinen Worten und doch fühlte sie sich durch die süßen Worte nicht gemeint.
    Tapfer? Das bin ich nicht. Sie schüttelte den Kopf. Ich habe wahnsinnige Angst.
    Jetzt legte er beide Hände auf ihre Schultern und zog ihren Kopf an seine Brust, dass sie fast von ihrem Sitz rutschte. Mein süßes Mädchen, ich weiß, sagte er, und sie spürte seinen Mund an ihrer Stirn. Aber du musst nicht immer widersprechen. Du fährst hin, das ist tapfer.
    Eine andere Tochter wäre schon vor Jahren gefahren, eine andere Tochter hätte ihre Mutter nicht erst im Stich gelassen.
    Du konntest nichts für sie tun. Wilhelm streichelte Helene über das Haar. Wilhelm roch nicht unangenehm, fast vertraut. Helene ahnte, sie wusste wohl, dass seine Worte Trost sein wollten. Sie drängte sich an ihn. Was konnte sie an Wilhelm mögen? Dass jemand sie litt, vielleicht.
    Nur durch eine Sondergenehmigung der Gesundheitsbehörde, die Leontine über Bautzen in Pirna veranlasst hatte, war es Helene gestattet worden, ihre Mutter zu besuchen.
    Das Gelände war sehr weitläufig und wären da nicht die hohen Zäune gewesen, so konnte man sich beinahe vorstellen, wie hier Könige vor Jahrhunderten residiert hatten und sich am Ausblick erfreuten; wo die Wesenitz von Norden und die Gottleuba von Süden in die Elbe mündeten, erstreckte sich eine liebliche Landschaft zu ihren Füßen. Der strahlende Sonnenschein und das laute Vogelzwitschern hatten etwas Unwirkliches. Hier sollte sich die Mutter als Kranke in Gewahrsam befinden?
    Ein Pfleger führte Helene und Wilhelm eine Treppe hinauf, einen langen Gang hinunter, Gittertüren wurden aufgeschlossen und wieder hinter ihnen verschlossen. Der Besuchsraum befand sich am Ende des Flügels.
    Die Mutter saß in einem Krankenhemd auf der Kante der Bank. Ihr Haar war vollkommen silbern, sonst sah sie aus wie einst, keinen Tag älter. Als Helene eintrat, wandte sie den Kopf zu Helene und sagte: Das habe ich dir gesagt, nicht wahr, du wirst mich pflegen. Zuerst hier raus, die Hände zerwühlen mir meine Eingeweide. Dabei gibt es keine Ableger in mir, keine Birnen aus Äpfeln. Nichts wird da gemischt. Der Arzt sagt, ich habe Kinder. Das konnte ich ihm ausreden. Geschlüpft und entflohen. Solche Kinder hat man nicht. Die müssten einem aus dem Kopf wachsen, von hier nach da. Die Mutter haute sich mit der flachen Hand an die Stirn und gleich darauf gegen den Hinterkopf, wieder an die Stirn und an den Hinterkopf. Rausgeschüttelt, so einfach ist das.
    Helene ging auf ihre Mutter zu. Sie nahm eine ihrer kühlen Hände. Haut und Knochen. Die alte Haut fühlte sich weich an, außen spröde und weich, innen weich und glatt.
    Nicht anfassen. Der Pfleger, der an der Tür stand und den Besuch überwachte, drohte jetzt näher zu kommen.
    Haben Sie keine Schwestern hier? Helene rief es, sie erschrak über die Lautstärke ihrer eigenen Stimme.
    Doch, Schwestern gibt es auch. Aber für bestimmte Patientinnen benötigt man etwas mehr Kraft, wenn Sie verstehen?
    Es könnte sein, es könnte sein, ich beiße, könnte sein, ich beiße, könnte sein, ich kratze, klein und fein. Die Mutter sang mit der Stimme eines jungen Mädchens.
    Ich habe dir etwas mitgebracht. Helene öffnete ihre Tasche. Eine Bürste, einen Spiegel.
    Wenn Sie erlauben, der Pfleger streckte seine Hand aus. Ich nehme die Sachen gerne an mich und verwahre sie. Aus Schutz und Sicherheit dürfen die Kranken keinen eigenen Besitz hier haben.
    Doch hatte die Mutter schon die Bürste ergriffen und begann, sich ordentlich das Haar zu bürsten. Zwischen Berg und tiefem, tiefem Tal saßen einst zwei Hasen, fraßen ab das grüne, grüne Gras. Sie sang unbeirrt, trällerte mit der Stimme des jungen Mädchens, das sie einmal war.
    Der Pfleger stampfte mit dem Fuß auf. Es reichte ihm.
    Weiß Gott, woher sie all die Lieder kennt.
    Der Pfleger griff nach der Bürste und riss sie der Mutter aus der Hand. Dabei rutschte der Spiegel von ihrem Schoß und zerbrach, als er auf den Boden schlug. Und den auch, rief der Pfleger, als er den Spiegel und die Scherben vom Boden aufhob. Kaum hatte der Pfleger der Mutter die Bürste entrissen und den Spiegel an sich genommen, ließ sich

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