Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Titel: Die Mittagsfrau: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Franck
Vom Netzwerk:
die Mutter von der Bank auf den Boden gleiten. Sie lachte. Schwarze Lücken klafften. Helene erschrak, als sie die Zahnlücken im Gebiss der Mutter sah. Die Mutter lachte, dass es gurgelte, und konnte sich nicht mehr beruhigen.
    Es hat keinen Zweck, Fräulein, das sehen Sie!
    Was meinen Sie mit Zweck? Helene fragte es, ohne sich zu dem Pfleger umzusehen, sie bückte sich und legte ihre Hand auf den Kopf ihrer Mutter, das graue Haar war trocken und struppig. Die Mutter wehrte sich nicht, sie lachte. Meine Mutter ist nicht verrückt, nicht so, wie Sie meinen. Sie gehört hier nicht her. Ich möchte sie mitnehmen.
    Tut mir leid, wir haben hier unsere Anweisungen, und an die halten wir uns. Sie können diese Frau nicht einfach mitnehmen, selbst wenn es Ihre Tochter wäre, dürften Sie nicht.
    Komm Mutter, Helene packte ihre Mutter unter den Armen und wollte sie hochziehen.
    Der Pfleger sprang mit einem Satz auf sie zu und trennte Mutter und Tochter. Hören Sie nicht? Das sind Anweisungen.
    Ich möchte den Professor sprechen. Wie war sein Name, Nitsche?
    Der Professor befindet sich in einer wichtigen Besprechung.
    So? Dann werde ich warten, bis die Besprechung vorüber ist.
    Tut mir leid, Fräulein. Er wird Sie trotzdem nicht sprechen. Sie müssen ihn schriftlich um einen Termin bitten.
    Schriftlich? Helene suchte in ihrer Tasche, sie fand das schwarze Notizheft, das Wilhelm ihr vor wenigen Tagen geschenkt hatte, und riss eine Seite heraus. Von ihren Händen strömte ihr der Geruch ihrer Mutter entgegen, ihr Lachen, ihre Furcht, der Talg ihres Haares und der Schweiß ihrer Achseln. Mit dem Bleistift schrieb sie: Sehr geehrter Herr Professor.
    Fräulein, ich muss Sie bitten. Wollen Sie, dass wir Sie auch hierbehalten? Ich denke, der Professor hätte unter diesem Gesichtspunkt ein gewisses Interesse – schließlich untersucht er die Erblichkeit solcher Erkrankungen. Wie ist Ihr Name noch gleich?
    Respekt, junger Mann, Wilhelms Augenblick war gekommen, er mischte sich ein. Sie werden das Fräulein jetzt gehen lassen. Die junge Frau ist meine Verlobte.
    Der Pfleger öffnete die Tür. Wilhelm hielt Helene seinen Arm hin. Kommst du, Schätzchen?
    Helene wusste, dass ihr keine andere Möglichkeit blieb. Sie nahm Wilhelms Arm und ging zur Tür hinaus. Am Ende des Flurs hörten sie hinter sich ein gellendes Schreien. Es war nicht deutlich, ob es das Schreien eines Tieres oder eines Menschen war. Auch konnte Helene nicht erkennen, wessen Schreien es war; es konnte das Schreien ihrer Mutter gewesen sein. Ein Pfleger schloss ihnen die Tür auf. Wilhelm und Helene gingen schweigend den folgenden Flur entlang. Die Stille an diesem Ort war unheimlich, sie hatte etwas Endliches.
    Im Zug nach Berlin nahmen Wilhelm und Helene schweigend Platz. Der Zug fuhr durch einen Tunnel. Helene spürte, dass Wilhelm auf ihren Dank wartete.
    Bitte, sagte sie, nenn mich nicht mehr Schätzchen.
    Aber du bist doch mein Schätzchen. Wilhelms Augen hafteten an Helenes Gesicht. Morgen muss ich wieder für eine Woche nach Stettin. Ich will dich nicht länger in Berlin allein lassen.
    Warum sollte ich allein sein? Meine Patienten warten auf mich, sie brauchen mich.
    Glaubst du, es gibt in Stettin keine Patienten, die auf dich warten? Die findest du auf der ganzen Welt. Aber mich gibt es nur einmal. Alice, mein süßes Fräulein, deine Enthaltsamkeit ist edel, um die Wahrheit zu sagen, sie macht mich verrückt. Es muss auch mal Schluss damit sein. Ich brauche dich.
    Helene nahm seine Hand. Du musst mich nicht überreden, sagte sie, sie küsste seine Hand. Es war gut zu hören, dass sie gebraucht wurde. Wie sollte sie darüber sprechen?
    Mit welchen Urkunden kann ich dich heiraten? Sie flüsterte. Ich besitze keine, keine einzige.
    Das lässt sich machen, behauptete Wilhelm leichthin. Hast du nicht einmal erzählt, dass du Druckpressen bedient hast?
    Helene schüttelte den Kopf. Das Papier, die richtigen Lettern, Stempel und Siegel. Urkunden sind alles andere als einfach zu drucken.
    Lass das meine Sorge sein, versprochen?
    Helene nickte, es war gut, wenn er sich darum kümmern wollte. Wilhelm erwähnte einen Bruder in Gelbensande, der seit der Heirat einen Hof bewirtschafte, sich aber mit dem Herstellen von Papieren auskenne.
    Im Krankenhaus drohte man Helene seit geraumer Zeit, sie möge endlich ihre Unterlagen beibringen, den Ausweis, wenigstens die Geburtsurkunde und die Geburtsurkunden ihrer Eltern, am liebsten ein Familienbuch ihrer Eltern, das wollte man

Weitere Kostenlose Bücher