Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
hatte, vielleicht war sie ganz in ihrer Welt und in Gedanken mitten in ihrem Buch, vielleicht war sie auch einfach froh, dass sie nicht selbst dieses Knäuel aus zerfressenen Nähbändern und Larven in der Hand hielt. Helene musste würgen. Vorsichtig schob sie das Knäuel auf das Bett der Mutter, wo am Fußende verschiedene Strumpfhalter, Strümpfe und Kleidungsstücke der vergangenen Tage lagen.
Martha lehnte sich im Schaukelstuhl zurück, sie streckte ihre Beine aus. Mit einer zärtlichen Bewegung legte sie sich die Locke, die aus dem dicken Zopf gerutscht war, hinter das Ohr. Hin und wieder schnalzte sie mit der Zunge, schlug ein Bein über das andere und kniff die Augen zusammen, leckte sich über die Lippen, als schmeckte ihr das Gelesene außerordentlich. Erst als der Vater mit seinem Hund das Zimmer betrat, schreckte sie zusammen. Baldo hatte den Schwanz eingeklemmt und legte sich sogleich vor den Ofen.
Doch der Vater konnte die roten Wangen seiner älteren Tochter so wenig wie das Buch bemerken, das sie eilig unter der Schürze verschwinden ließ. Einzig für seine Frau hatte er Augen. Er wusste nicht, wie er Abschied nehmen sollte, und seufzte, während er in seiner Husarenuniform auf und ab ging. Bei jeder Kehrtwende sah er seine Frau an, als ersuchte er sie um Hilfe und erbitte ihren Rat. Helene schien es, als wollte der Vater sprechen, aber er atmete nur schwer und schluckte und schickte schließlich die Mädchen aus dem Zimmer.
Später klopfte Helene gegen die angelehnte Tür, sie wollte eine gute Nacht wünschen und dabei gern einen Blick auf den neuen Säbel und die Schärpe an der väterlichen Uniform werfen. In Helenes Augen war die Furcht, die Martha und die Mutter vor dem Kriegszug des Vaters äußerten, völlig unbegründet. Der Vater mit seinem kaiserlichen Schnurrbart, den er mehr aus Bewunderung und Respekt denn wegen erster leiser Zweifel ein wenig kürzer als der Kaiser trug, und seiner felsenfesten Zuversicht und Liebe für diese wundersame Mutter erschien ihr ganz und gar unversehrbar. Dieser Eindruck wurde vom Glänzen und Funkeln des neuen Krummsäbels untermalt. Noch während Helene klopfte, öffnete sich die Tür einen Spalt. Der Vater kniete auf dem dunklen Holzboden, Eichenparkett, das erst vor wenigen Tagen poliert worden war. Es duftete nach Harz und Zwiebeln. Seine Stirn hatte er auf die Hand der Mutter gelegt.
Gute Nacht, flüsterte Helene, sie warf einen Blick auf den Säbel, den der Vater nachlässig auf dem Schaukelstuhl abgelegt hatte. Da der Vater nicht antwortete, nahm Helene an, er schlafe. Auf Zehenspitzen näherte sie sich dem Schaukelstuhl. Sie strich mit dem Finger über die Schneide und wunderte sich, wie stumpf sie war, wie kühl. Ein leises Schnalzen scheuchte sie auf, sie sah, wie der Vater mit einem Arm fuchtelte, um ihr zu bedeuten, dass sie sich davonscheren solle. Der Vater wollte mit der Mutter allein sein. Es störte ihn nicht, dass Helene die Schneide seines Säbels befühlte, einzig ihre Anwesenheit störte ihn. Er musste Abschied von seiner Frau nehmen. Selma Würsich lag mit geschlossenen Augen ausgestreckt auf ihrem Bett, vielleicht war es der hohe Kragen, der ihren Hals steif hielt und der Zwiebelgeruch, der ihren geschlossenen Augen Tränen entlockte. Die Mutter hörte nichts, sah nichts, sagte nichts.
Auf leisen Sohlen ging Helene rückwärts zur Tür, dort wartete sie, sie hoffte, der Vater würde sie noch etwas fragen, aber der Vater hatte die Stirn wieder auf den Handrücken der Mutter gelegt und wiederholte die Worte: Mein Täubchen, meine Liebe. Helene bewunderte ihren Vater für seine Liebe. Wer ihre Mutter liebte, dem konnte kein Krieg etwas anhaben.
Am folgenden Abend hatte keines der Mädchen dem Vater eine gute Nacht gewünscht. Sie hörten ihn im Zimmer nebenan auf und ab gehen und wussten, dass er weder Rat noch Hilfe erhielt. Manchmal sagte er etwas, es klang wie Freude! und wie Gott! Nur selten hörten sie zwischen diesen Worten das Fiepen seines Hundes.
Die Mädchen lagen eng aneinandergeschmiegt, Helene drückte ihre Nase zwischen die Schulterblätter der großen Schwester, von Zeit zu Zeit reckte sie ihr Kinn und schnappte nach Luft, während Martha in regelmäßigen Abständen eine Seite umblätterte und leise für sich lachte. Doch dann hörten die Mädchen laut und deutlich die tiefe, vom starken Rauchen etwas mitgenommene Stimme der Mutter: Wenn du gehst, sterbe ich.
Helene strich mit der Hand über das mattbraune Mal,
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