Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
angestoßenen Kanten. Doch dann beäugte sie die Schachtel misstrauisch, sie drehte und wendete und schüttelte sie, und es klimperte darin, als habe sich der Verlobungshut in lauter Nägel oder Münzen verwandelt. Eine Weile versuchte die Mutter mit zittrigen Fingern das violette Schleifenband aus Atlas, das vielfach um die Schachtel gewunden war, zu lösen. Bis sie die Geduld verlor. Zorn verzerrte ihr Gesicht. Mit einem Aufschrei warf sie die Schachtel vor Marthas Füße: Du schaffst das!
Martha hob die Hutschachtel auf, die Schachtel hatte jetzt eine große Beule. Martha blickte sich um; weit und breit konnte sie keinen freien Platz entdecken, auf den sie den Schatz hätte stellen können. Also trug sie die Schachtel hinunter in die Küche und stellte sie dort auf den Tisch. Helene und die Mutter folgten ihr. Marthas Hände waren flink, geschickt öffnete sie die Knoten.
Den Deckel wollte die Mutter selbst abheben. Sie seufzte, als ihr Blick ins Innere fiel. Ein Meer von Knöpfen und anderen Nähutensilien kam zum Vorschein, geklöppelte Blüten und kleine Stofffetzen, mit denen vermutlich die noch nackten und zu erneuernden Knöpfe bezogen werden sollten.
Die Mutter musste sich auf einen Stuhl setzen und tief Atem holen. Dabei hob und senkte sich ihr Brustkorb heftig, als wehre sie sich mit aller Kraft gegen die aufsteigende Erregung. Sie schluchzte, Tränen rannen ihr über die Wangen, und Helene fragte sich, wo sich in der schmalen Mutter der schier unend liche Vorrat an Tränen verbergen konnte.
Am späten Nachmittag hatte sich die Mutter hingelegt, die Mädchen saßen nahe dem Bett, Helene auf dem Hocker, Martha im Schaukelstuhl. Helene beugte sich über die runde Schachtel und war damit beschäftigt, kleine Ösen und große Ösen, goldene und schwarze, weiße und silberne herauszufischen. In dem Knäuel aus Nähbändern und Litzen entdeckte Helene ein Gespinst von Motten. Die leeren Hüllen der Larven klebten zwischen den Stoffen. Helene blickte sich um. Die Mutter lag auf einem hohen Kissen. Sie hatte eine Hand auf ihrer kleinen Truhe mit den zwei Schubladen abgelegt, in der sich Ansichtspostkarten und Briefe, aber auch getrocknete Blätter und einzelne Spielkarten befanden – man konnte ja nie wissen, ob man nicht eines Tages wieder ein ganzes Spiel zusammenfand oder eine einzelne Karte für ein sonst unvollständiges Spiel benötigte. In der unteren Schublade bewahrte die Mutter vor allem Kaffee- und Briefmarken auf. Sie hatte die Augen geschlossen und zuvor ihre Töchter ermahnt, sie sollten ruhig sein und ihre Arbeiten erledigen. Seit Stunden litt die Mutter an heftigen Kopfschmerzen, ihre Stirn zeigte zwischen den Augen das Faltendreieck einer Leidenden. Offenbar erachtete Martha die Gelegenheit als günstig. Die ihr zugewiesene Aufgabe musste ihr mühsam und unsinnig erscheinen, sie sollte die Fäden der achtlos in den Nähkasten geworfenen Garnrollen entwirren und ordentlich aufwickeln. Die Garnrollen mussten nach Farben und Qualität sortiert werden.
Sobald der Arm der Mutter schwer im Schlaf von der kleinen Truhe rutschte und ihr Atem gleichmäßig ging, zog Martha ein schmales senffarbenes Buch unter ihrer Schürze hervor und begann darin zu lesen. Sie kicherte in sich hinein, wobei ihre Füße auf und ab wippten, als wolle sie jeden Augenblick tanzen oder wenigstens aufspringen. Helene blickte sehnsüchtig zu Martha hinüber, gern hätte sie gewusst, was der Anlass ihrer Heiterkeit war. Helene betrachtete das Knäuel Nähbänder in ihren Händen. Ekel erfasste sie, als sie auf dem dunkelblauen Samt ihres Kleides eine weiße Made entdeckte, die mühsam in Richtung Knie kroch. Schon fiel eine zweite, winzige Made aus dem verlassen geglaubten Mottengespinst in ihren Händen und landete unweit der ersten auf ihrem Schoß. Die Made krümmte sich, es war ungewiss, welche Richtung sie einschlagen würde. Voller Hoffnung, Martha könne sie erlösen, flüsterte Helene hinüber: Kann ich das wegwerfen?
Durch die zugezogenen Gardinen schimmerte blattgrünes Licht. Von Zeit zu Zeit blähte ein Windstoß die Gardinen, und in dem schmalen Sonnenstrahl, der nur kurz durch das Fenster brach, tanzten winzige Staubkörnchen. Martha schaukelte vor, hielt einige Sekunden inne und schaukelte zurück. Sie blätterte eine Seite um und würdigte das Knäuel in Helenes Hand keines Blickes. Als sie streng den Kopf schüttelte und dabei doch lächelte, war Helene nicht sicher, ob Martha sie überhaupt gehört
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