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Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Titel: Die Mittagsfrau: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Franck
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aufregend und beruhigend. Wenn Helene zum Bäcker ging, zählte sie auf dem Hinweg die Vögel und auf dem Rückweg die Menschen, die ihr begegneten. Ging sie mit dem Vater aus dem Haus, zählte sie, wie oft sein großer sandfarbener Hund namens Baldo das Bein hob und auch, wie oft sie gegrüßt wurden, und freute sich über die hohen Zahlen, einmal spielte sie sie gegeneinander aus, jeder Gruß vernichtete eine Marke des Hundes. Hin und wieder wurde der Vater im Übermut mit Herr Professor angesprochen, wobei es sich eher um den Ausdruck von Schmeichelei als um ein Miss verständnis handelte. Jeder wusste, dass Ernst Ludwig Würsich zwar seit einigen Jahren philosophische und literarische Bücher verlegte und in seiner Druckerei setzen ließ, aber er hatte damit keinen Professorentitel erworben. Der Bürgermeister Koban blieb stehen und tätschelte Baldo über den Kopf. Die Männer tauschten Zahlen aus über die Druckauflage der Festschrift zur Räteversammlung und Koban fragte den Vater, was für einer sein Hund sei. Doch der Vater weigerte sich stets, Mutmaßungen über beteiligte Rassen zu äußern, sondern antwortete: Ein Guter.
    Helene wunderte sich über die vielen Bekannten, die grußlos an ihnen vorübereilten, sobald sie mit der Mutter auf die Straße trat. Der Mutter schien das nicht aufzufallen. Helene zählte still und heimlich, wobei sie oft nicht über eine Begrüßung hinaus kam. Die Bäckersfrau Hantusch, die dem Vater sonst fast um den Hals fiel, schaute sie nicht einmal an. Lieber senkte sie ihren Schirm leicht, schob ihn wie einen Schutzschild vor sich her und verhinderte auf diese Weise jeden Blickwechsel. Vermutlich war es Martha, von der Helene eines Tages erfahren hatte, dass die Mutter keineswegs Frau Würsich genannt wurde. Die Bewohner der Tuchmacherstraße sprachen von der Fremden, die Fremde, die zwar den angesehenen Bautzener Bürger und Buchdruckmeister Würsich geheiratet hatte, aber selbst hinter dessen Ladentheke und auf der Straße mit den gemeinsamen Töchtern an der Hand eine Fremde blieb. Obwohl es in der Lausitz durchaus Brauch war, am Herkunftsort der Frau zu heiraten, gab es auch noch zehn Jahre nach der Eheschließung Gerede über die Herkunft dieser Braut. Es hieß, die Eheleute seien standesamtlich in Breslau getraut worden. Standesamtlich, das klang nach einer ehrrührigen Verbindung. Jeder wusste, dass die Fremde ihrem Mann sonntags nicht in den Petridom folgte. Ein Gerücht besagte, sie sei gottlos.
    Da nützte es nichts, dass ihre Töchter im Dom getauft worden waren. Die Bewohner Bautzens empfanden offenbar die nicht stattgefundene kirchliche Trauung als Schmach für das Ansehen ihres Bürgerstandes. Niemand würdigte die Fremde eines Grußes. Jeder Blick, auch wenn er Selma Würsich nicht treffen konnte, weil sie wie in weiser Voraussicht den raren Fundstücken zwischen den Pflastersteinen mehr Aufmerksamkeit schenkte als den Bürgern der Stadt, war abschätzig von einem Kopfschütteln und Flüstern begleitet. Ob stolz oder verlegen, die Passanten blickten an Helene und ihrer Mutter vorbei, hinweg über die am Boden hockende Frau und durch sie hindurch. Begegnete Helene an der Hand der Mutter dem Bürgermeister Koban, einem Freund des Vaters, so wechselte dieser grußlos die Straßenseite. Die Söhne vom Richter Fiebinger lachten und drehten sich um, weil sie die im Sommer dünnen Stoffe anstößig und die im Winter ausladenden Kleider der Mutter seltsam fanden. Doch die Mutter schien von alldem nichts zu bemerken. Sie bückte sich und zeigte Helene strahlend eine kleine Glasperle, die sie gefunden hatte. Schau mal, ist die nicht schön? Helene nickte. Die Welt steckte voller Schätze.
    Wann immer die Mutter das Haus verließ, sammelte sie auf, was sie am Boden fand – das waren Knöpfe und Münzen, ein alter Schuh, der so aussah, als könne man ihn noch einige Monate tragen und vielleicht etwas aus ihm machen, zumindest war der Schnürsenkel im Gegensatz zur Sohle neu und die Haken am Schaft erschienen in den Augen der Mutter von großer Seltenheit und besonderem Wert. Aber auch ein buntes Stück Keramik unten am Fluss, wenn es rundgespült war, entlockte der Mutter einen Ausruf der Freude. Einmal fand sie unmittelbar vor der Haustür einen Gänseflügel und weinte Tränen der Rührung.
    Martha hatte damals behauptet, es sei mehr als wahrscheinlich, dass jemand den Flederwisch vor die Tür gelegt habe, nur, um zu sehen, wie die Fremde sich bückte und ihn auflas. Die

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