Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
Federn waren vom Gebrauch schon gestutzt, einige Kiele ragten wie abgebrochene Zähne hervor, blank und kahl.
Die Mutter sammelte Flederwische, auch wenn sie selten von einem Gebrauch machte. Sie hängte die Vogelflügel an die Wand über ihrem Bett. Ein Vogelschwarm für das Geleit von Seelen, so nannte sie ihre Sammlung. Nur ein gefundener Flederwisch erhielt einen Platz über dem Kopfende. Es waren neun an der Zahl mit diesem, sie hoffte auf den zehnten. Sind es erst zehn, so konnte sie die zweiundzwanzig Buchstaben ergänzen und Wege erhellen, wie sie sich ausdrückte. Keine der beiden Töchter erfragte, woher und wohin welche Seelen geleitet werden sollten. Ihnen war die auf parallele Welten begründete und aus ihnen geliehene Bedeutung einer wandernden Seele unheimlich. Es sollte neben ihrer Welt, in der ein Ding ein Ding war und ein Lebewesen ein Lebewesen, auch eine geben, in der die Bezüge zwischen Leben und Ding eine Einheit schufen. Helene hielt sich die Ohren zu. War es nicht schon schwierig genug, sich die Beschaffenheit einer Seele vorzustellen? Was konnte einer Seele erst geschehen, wenn sie auf Wanderschaft ging? Blieb sie die eine Seele, eine wiedererkennbare, einzelne? Würde man sich wirklich in einer anderen Welt zu gegebener Zeit wieder begegnen müssen? Die Mutter drohte damit. Wenn ich tot bin, werden wir uns wieder begegnen, wir werden verbunden sein. Es gibt kein Entrinnen. Aus Furcht wollte Helene nichts mehr über Seelen wissen. Für jeden Gegenstand kannte die Mutter eine mutmaßliche Bestimmung, notfalls erfand sie eine. Über die Jahre der Ehe hatte sich das Haus gefüllt, nicht nur in den Schränken und Vitrinen, auch auf dem Boden zwischen den Möbelstücken drohte beständig eine eigenwillige Landschaft zu wachsen, Hügel und Haufen legte die Mutter an, Sammlungen bestimmter und weniger bestimmter Gegenstände. Einzig die Haushälterin Marja, von den Herrschaften Mariechen genannt und nur wenige Jahre älter als die Mutter, schaffte es mit großer Geduld und Beharrlichkeit, in manchen Räumen für erkennbare Ordnung zu sorgen. Die Küche unterstand Mariechens Regiment, das Esszimmer, die schmale Treppe in die beiden höheren Stockwerke. Aber im Schlafzimmer der Mutter und im angrenzenden Raum waren es kaum erkenntliche Pfade, auf denen man gehen durfte. Selten war hier ein Stuhl frei, so dass man sich setzen konnte. Die Mutter sammelte Äste und Schnüre, Federn und Stoffe, aber auch kein zerbrochenes Geschirr durfte fortgeworfen werden, keine noch so angestoßene Schachtel und kein von Würmern zernagter Schemel, auch nicht, wenn er wackelte, weil eins der Beine inzwischen morsch und zu kurz war. Was das Mariechen aus ihren Wirtschaftsräumen ausrangierte, wurde von der Mutter hinauf in die oberen Gemächer getragen, wo sie den löchrigen Topf oder das zerbrochene Glas erst einmal abstellte, in der Zuversicht, eines Tages einen Platz und auch eine Verwendung für den Gegenstand zu finden. Niemand konnte in der Ansammlung eine Ordnung erkennen, einzig die Mutter selbst ahnte, in welchem Stapel sie einen gewissen Zeitungsausschnitt suchen konnte und unter welchem Kleiderhaufen sie die kostbare sorbische Spitze abgelegt hatte. War das filigrane Muster dieser Spitze nicht einzigartig, wo hatte es je so zarte und ungestüm aus der Textur herausragende Lilien gegeben wie diese?
Auf der Suche nach einem wollenen Winterkleid, das Martha vor fast zehn Jahren abgelegt hatte und das Helene nun tragen sollte, hatte die Mutter im Innern des höchsten, bis knapp unter die Zimmerdecke reichenden Kleiderberges gewühlt, war bald darunter verschwunden und kroch schließlich mit einem anderen, schon viel zu kleinen Kleid daraus hervor. Der Kleiderhaufen war mit der Suche in die Breite geraten und erstreckte sich nun über das Regal, zwei Stühle und den Trampelpfad. Helene schien es, als müsse das Haus bald unter der Last seiner Füllung auseinanderbrechen. Die Mutter bückte sich, hob einzelne Dinge auf, legte sie links und rechts zur Seite und arbeitete sich so in die Ecke des Zimmers vor. Dort stieß sie in Bodennähe auf eine runde Hutschachtel. Sie drückte die Hutschachtel an ihre Brust wie einen verlorenen Sohn.
In dieser Schachtel habe sie einst den Hut ihrer Verlobung ins eheliche Haus gebracht, einen ungewöhnlich ausladenden, mit Schleier und dunkelblau, fast schwarz schimmernden Federn einer Elster. Zärtlich streichelte sie das feine graue Papier des Deckels und strich über die kaum
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