Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
Bettrand und streichelte Marthas Arm.
Bitte.
Helene schüttelte wieder den Kopf.
Dann geh ich hinunter. Ich glaube, ich hab das Mariechen vorhin gehört. Ich werde ihr beim Abendbrot helfen. Martha stand auf, befestigte ihre wollenen Strümpfe und zog ihr schwarzes Kleid an.
Kaum war Martha aus der Tür und waren ihre Schritte auf der Treppe verklungen, streckte Helene ihren Arm aus, sie hob den am Boden liegenden Mantel auf. Helene fand keinen Brief und keinen Zettel in der Manteltasche, sondern ein Taschentuch und darin eine Spritze. Eine Erinnerung an den Vater? Helenes Gedanken fielen übereinander. Warum sollte Martha die Spritze des Vaters heimlich verschwinden lassen, auf dem Taschentuch entdeckte Helene kleine Blutflecken, sie wickelte die Spritze hastig in das Taschentuch zurück, es öffnete sich wieder, Helene rollte es, wickelte es und stopfte das kleine Bündel dorthin zurück, woher sie es genommen hatte, warum in ihrer Manteltasche, warum mit ihr im Häuschen, mit der Spritze, und nicht mit einem Brief von Leontine?
Kein schönerer Augenblick
als dieser
Im Winter nach dem Tod des Vaters fror die Spree vom Ufer her zu, bis im Januar die Eisschollen so dicht saßen, dass es eine Mutprobe für die Jungen der Stadt war, auf ihnen den Fluss zu überqueren. Für Helene galt das Schauspiel als Hinweis auf die Wahrheit der Bibel. Konnte nicht auch in der Wüste das Wasser gefrieren und war es nichts als ein zeitlicher Hinweis, wann es war, dass Jesus über das Wasser ging? Aus den Schornsteinen quoll in der Frühe Rauch, seine Schwaden hüllten die auf dem Granitfelsen liegende Stadt ein. Nur die Spitze des Lauenturms, der Petridom und der schiefe Reichenturm ragten in den Morgenstunden aus dem weithin sichtbaren Bautzener Nebel. Selbst die hohen Mauern der Ortenburg und die Alte Wasserkunst waren in Dunst getaucht. In den meisten Häusern ging das Brennholz Ende Januar aus, und wo das Geld fehlte und die Lieferung von Kohle auf sich warten ließ, zerhackten die Menschen kleinere Möbelstücke, Schemel und Bänke, Gartenmöbel, solche, die ihnen mitten im Winter unnütz erschienen. Martha und Helene sahen, wie ihre Barschaften schwanden. Kaum konnten sie einen Kalender oder eine Ansichtskarte verkaufen, wollte das eingenommene Geld umgehend ausgegeben werden. Nie war das Brot so teuer wie morgen. Sie wollten einen Pächter für die Druckerei finden, doch alles Werben und Suchen war vergeblich. Die Fabriken unten am Fluss entließen ihre Arbeiter, wer konnte, floh nach Breslau, Dresden oder Leipzig; jede größere Stadt versprach bessere Möglichkeiten, an Essbares und eine beheizte Bleibe zu gelangen.
Helene räumte die Lagerräume und die Regale im Werkraum auf. Auf den oberen Brettern lag dicker Staub und eine Vielzahl kleinerer Druckvorlagen, die niemand mehr benötigen würde. In den unteren Fächern hatte Helene in den vergangenen Jahren Papiere gestapelt, aber vieles davon war in den letzten Wochen in die Öfen gewandert. Ein kurzes Brennen war besser als gar keins. Sicherlich würden die langen Bretter des hohen Regals gut heizen. Man musste ja nicht gleich das ganze Regal auseinandernehmen. Nur das Holz der oberen beiden Fächer wollte Helene verwenden. Die Bretter waren fest in den Stütz pfosten verankert. Das Regal streckte sich an der Längswand vom Boden bis zur Decke und von der hinteren Ecke bis nach vorne zur Tür und darüber hinweg. Es würde noch groß genug sein, wenn die obersten Bretter fehlten. Mit einem Hammer in der Hand stieg Helene auf die Leiter. Eine Pappe war hinter das Regal gerutscht und klemmte dort zwischen einem Brett, der Wand und dem Pfosten. Helene beugte sich vor, hielt sich mit einer Hand an dem Regal fest und wollte die Pappe herausziehen. Mit dem Hammer wollte sie sodann das oberste Brett aus seiner Verankerung schlagen. Die Pappe klemmte fest. Helene tastete an der Wand entlang und versuchte, die eine Ecke der Pappe hinter dem Pfosten zu lösen, als sie etwas Bewegliches, Metallisches spürte. An der Rückseite des äußeren Stützpfos tens ertastete sie den Gegenstand, sie löste ihn und fand in ihrer Hand einen Schlüssel. Er hatte etwas Rost angesetzt, aber Helene wusste sofort, um welchen Schlüssel es sich handelte. Seine Form und seine ungewöhnliche Verzierung am Kopf waren ihr vertraut. Selbst sein Gewicht kam ihr bekannt vor – dabei hatte sie ihn nie zuvor in der Hand gehalten. Ein wenig kleiner wirkte er, als wäre er geschrumpft. Helene erinnerte
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