Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
sich gut, wie vor dem Krieg zum Feierabend der Vater die Kasse geleert hatte, den Schlüssel in der Hand, und mit den Händen voller Geld in den hinteren Raum gegangen war, wo er die Tür zum großen Schrank öffnete. Obwohl Helene sich schon beim Öffnen der Kasse zur Tür wandte, zwinkerte er ihr jeden Abend mit dem später fehlenden Auge zu und sagte: Hältst du an der Tür Wache? Und wenn jemand kommt, dann pfeifst du. Manchmal sagte Helene: Mädchen sollen nicht pfeifen. Dann fragte er lächelnd zurück: Ja, bist du denn ein Mädchen? Und einmal sang er hinter der geöffneten Schranktür hervor jenen Vers, den er ihr schon ins Album geschrieben hatte: Sei wie das Veilchen im Moose, sittsam, bescheiden und rein, nicht wie die stolze Rose, die immer bewundert will sein. Dann veränderte er seinen Tonfall, drohend, fast beschwörend flüsterte er: Aber jedes Mädchen muss pfeifen können, merk dir das.
Helene wusste, dass sich in der Rückwand des Schrankes die Tür zum Tresor befand. In den Jahren der Abwesenheit des Vaters fand sich der Schlüssel nicht, und nach seiner Rückkehr hatte die Gelegenheit gefehlt, ihn nach dem Schlüssel zu fragen. Helene liebte ihren Vater, wenn er ihr über das Haar strich und ihren Kopf an sich zog wie den seines großen Hundes, wollte sie die gefundene Geborgenheit um keinen Preis mehr verlassen, sie verharrte still, bis der Vater sie mit einem freundlichen Klaps hinauf in die Küche oder auf die Straße schickte. Trotzdem der Spruch vom Veilchen Helene nicht gefiel. Sie mochte den süßen Duft von Veilchen und auch ihr zartes Äußeres, aber mindes tens ebenso gefiel ihr der aufrechte Wuchs von Rosen, die Stacheln, mit denen sie sich schützten, ihre leuchtenden Farben, das aufbrechende Rosa, ein Gelb wie das späte Sonnenlicht im Oktober, und besonders liebte Helene das Lied von Maria, die durch den Dornwald ging. Leontine hatte es ihnen beigebracht, ehe sie nach Berlin gegangen war. Erwiesen die Dornen Maria nicht alle erdenkbare Ehrfurcht, ja Hingabe, indem sie blühten? Alles an der Rose erschien Helene wenn nicht beneidens-, so zumindest bewundernswert. Nur aus Achtung für ihren Vater versuchte sie, dem Gleichnis der Blumen mit Mädchen etwas abzugewinnen, doch es blieb bei dem Versuch. Im Garten vor dem Haus hegte Helene seit dem vergangenen Jahr Rosen, keine Veilchen. Sie züchtete die Rosen nicht, sie hegte Wildlinge, die sie am Hang des Schafberges gefunden und ausgegraben hatte.
Als Helene nun gemeinsam mit Martha zum ersten Mal den Tresor öffnete, fanden sie alte Geldscheine in mehreren Stapeln geordnet, die zusammengerechnet gut zweitausend Mark ergaben und Martha und Helene lächeln ließen. Was hatte man damit wohl vor Jahren kaufen können? Ein ganzes Brot vielleicht, vielleicht ein halbes. Wenigstens ein halbes Pfund. Zweitausend Brote, behauptete Martha. Sie entdeckten ein ledernes Adressbuch, dessen Schnitt golden angemalt war, und eine Mappe mit ungeordneten Lithographien verschiedenster Größe und dem Druckbild nach unterschiedlicher Herkunft. Auf den Lithographien waren nackte Frauen zu sehen. Füllige Frauen, solche, die ihnen selbst und ihrer Mutter sehr unähnlich waren. Frauen in Strümpfen und Frauen mit Schleiern und Korsagen, aber auch Frauen, die einfach gar nichts auf dem Leib trugen.
Gemeinsam machten sich die Schwestern daran, die Namen und Adressen aus dem ledernen Buch auf Briefumschläge zu schreiben. In jeden Umschlag steckten sie eine Todesanzeige. Unter S lasen sie den Namen einer Tante, von der sie noch nie etwas gehört hatten. Dort stand: Fanny Steinitz. Hinter dem Namen hatte der Vater mit der feinen Handschrift eines leidenschaftlichen Buchhalters in Klammern Selmas Base, Tochter des verstorbenen Bruders von Hugo Steinitz aus Gleiwitz vermerkt. Die Adresse lautete Achenbachstraße 21, W 50, in Berlin-Wilmersdorf.
Noch ehe Helene in der folgenden Woche einen Augenblick geistiger Klarheit bei ihrer Mutter abwarten und nutzen konnte, um sie auf ihre in Berlin lebende Cousine anzusprechen, verfasste Helene eigenmächtig einen kurzen Brief. Geehrte Tante, so begann sie den Brief, leider wenden wir uns heute mit einer traurigen Nachricht an Sie, denn unser Vater, der Gatte Ihrer Base Selma Würsich, ist am elften November vergangenen Jahres an den Folgen seiner Kriegsverletzungen gestorben. Unsere Traueranzeige finden Sie anbei. Helene überlegte, ob und in welcher Weise sie sich zum Zustand der Mutter äußern, ihn erklären sollte.
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