Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
Schließlich würde sich die Base wundern, dass sie den Brief von ihren Nichten und nicht von ihrer Base erhielt. Gewiss würde Ihnen unsere Mutter die besten Wünsche senden, doch leider erfreut sie sich in den vergangenen Jahren keiner prächtigen Gesundheit. Mit herzlichen Grüßen, Ihre Nichten Martha und Helene Würsich.
Helene fragte sich, ob die Tante wohl noch unter jener Adresse wohnte. Musste sie nicht im Laufe der Jahre einmal geheiratet haben und heute einen anderen Namen tragen? Natürlich mochte die Tante staunen, weshalb man nach so vielen Jahren einen Kontakt aufnahm – zumal etwas vorgefallen sein musste, das zu dem Verschweigen jener mütterlichen Base aus den erzählten Geschichten der Familie geführt hatte. Doch Helenes Wunsch, diesen Brief zu schreiben, ihre Neugier und die Hoffnung auf eine Antwort aus Berlin ließen sie schnell alle Bedenken beiseite schieben.
Es wurde Ostern, ehe der Postbote einen selten schmalen, gefalteten Umschlag brachte, auf dem ihr Name stand: Fräulein Helene Würsich. Die Tante schrieb mit einer schwungvollen, beinahe auf dem rechten Rücken liegenden Schrift, die obere Schleife ihres Hs lag sanft auf dem feingestrichelten e. Das sei ja eine ungeheure Überraschung! Nach diesem Ausruf ließ die Tante zwei Zeilen frei. Schon lange habe sie nichts von ihrer verrückten Cousine gehört. Es freue sie aufrichtig, dass es mit den Jahren offenbar zwei Kinder gebe, denn ihr Kontakt sei nach der Geburt des ersten Kindes, Martha, abgerissen. Sie habe sich schon gefragt, ob ihre Cousine wegen früherer Streitigkeiten den Kontakt verweigere oder gar im Kindbettfieber gestorben sei. Im Postskriptum fragte Tante Fanny ihre Nichten, ob deren Mutter ernstlich erkrankt sei.
Ein Briefwechsel begann. Über die Mutter sei wenig zu berichten, da es ihr seit Jahren nicht gut gehe und wohl kein Arzt ihr helfen könne. Helene überlegte mit Martha, wie sie den Zustand ihrer Mutter beschreiben konnten. Eine schlechte Verfassung sagte wenig, zumal der Mutter organisch nichts fehlte. Ihnen fiel die Mittagsfrau ein, von der das Mariechen von Zeit zu Zeit sprach. Mit einem merkwürdigen Lächeln bemerkte das Mariechen dann, ihre Dame, wie sie die Mutter nannte, weigere sich einfach, mit der Mittagsfrau zu sprechen. Da könne man nichts machen, sagte das Mariechen und zuckte die Schultern. Dabei müsse die Dame nichts weiter tun, als der Mittagsfrau eine volle Stunde lang von der Verarbeitung des Flachses zu erzählen, nichts sonst. Das Mariechen blinzelte. Nur ein wenig Wissen weitergeben. Martha und Helene kannten die Geschichte von der Mittagsfrau, solange sie denken konnten, es lag etwas Tröstliches in ihr, weil sie nahelegte, dass es sich bei der mütterlichen Verwirrung um nichts anderes als einen leicht zu verscheuchenden Fluch handelte. Da kann man nichts machen, sagte das Mariechen dann wieder und zuckte mit den Achseln, ihr Lächeln verriet, dass sie sich ihrer Mittagsfrau sicher war und nur ein winziges Mitleid für ihre ungläubige Dame empfand. Andererseits gehörte ihr ihre Dame auf diese Weise, unentrinnbar, ihr und ihrem Glauben. Doch Martha und Helene unterließen es, der Berliner Tante von der Mittagsfrau zu schreiben, sie wollten vermeiden, dass die Tante sie mit jenem ländlichem Volksglauben in Verbindung sah und ihnen Einfalt unterstellte. Also beließen sie es bei einer sachlichen Schilderung: ein unerklärliches Leiden, eine Seelenqual, deren Ursache schwer bestimmbar und deren Behandlung wohl unmöglich sei.
Ach, das würde sie nicht verwundern, schrieb Tante Fanny zurück, solche Leiden lägen in der Familie, und sie erkundigte sich, wer denn jetzt für die Mädchen sorge.
Sie sorgten selbst für sich, sagte Martha stolz und bat Helene, das zu schreiben. Alle beide. Helene sollte der Tante nur berichten, dass sie nach gerade zwei Jahren im September als jüngste Schwesternschülerin ihre Prüfung bestehen werde. Schon jetzt helfe sie in der Wäscherei des Krankenhauses und verdiene dabei etwas, so dass ihrer beider Einkommen für ihren bescheidenen Lebensunterhalt langten. Die Reste des elter lichen Vermögens konnten bislang die Mutter, das Haus und das treue Mariechen unterhalten, gerade so.
Helene zögerte. Wäre es nicht besser, von einem spärlichen Vermögen zu schreiben?
Warum? Ein Vermögen kann nicht spärlich sein. Es war beträchtlich, Engelchen.
Aber jetzt ist alles weg.
Muss sie das erfahren? Wir sind doch keine Bettler.
Helene wollte Martha
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