Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
etwas Mehl bekommen und es zu kleinen Klößchen geformt in der Suppe gekocht. Kartoffeln gab es nach dem letzten Winter nicht mehr. Es gab kein Fleisch, keine Linsen, keinen Kohl. Nicht einmal im Krankenhaus hatten sie etwas anderes als Fisch, um es den Kindern zu geben. Peters Blick hing wie beim letzten Mal an der verschlossenen Tür und dem Spalt, den das Schloss hinterlassen hatte. Er setzte sich auf die oberste Stufe. Ihm fiel ein, dass die Mutter ihn nach dem letzten Mal gebeten hatte, ein neues zu besorgen. Überall gab es Schlösser, in jedem Haus, in jeder gottverlassenen Wohnung. Aber Peter hatte es vergessen.
Jetzt kaute Peter auch an der aufgerauten Haut am Rande des Daumennagels, man konnte die Haut in länglichen dünnen Streifen abziehen. Seine Mutter hätte abschließen können, hätte er nicht das Schloss vergessen. Peters Blick wanderte über den verkohlten Türrahmen in die verlassene Wohnung der Nachbarn. Überall sah man die Spuren des Brandes, die Wände, Decken und Böden waren schwarz. Dabei hatten seine Mutter und er Glück gehabt, nur die Wohnung über ihnen war ausgebrannt und die der alten Nachbarn nebenan.
Plötzlich sprang die Tür auf, zwei Soldaten kamen heraus. Sie klopften sich auf die Schulter, sie waren guter Laune. Peter überlegte, ob er in die Wohnung gehen konnte, vorhin hatte er drei gezählt. Einer der Männer musste noch drinnen sein. Leise stand Peter auf, er ging zur Wohnungstür und stieß sie einen Spalt weit auf. Er hörte ein Schluchzen. Die Küche wirkte verlassen. Diesmal hatte keiner der Soldaten geraucht, alles schien noch so sauber und behaglich wie am Morgen. Auf dem Küchenschrank lag der Putzlappen seiner Mutter. Peter drehte sich um und entdeckte hinter der Tür den nackten Soldaten. Mit angewinkelten Beinen, den Kopf in die Hände gestützt, saß der Mann am Boden und schluchzte. Peter fand den Anblick seltsam, weil der Soldat einen Helm trug, obwohl er doch sonst ganz nackt war und der Krieg schon seit Wochen beendet sein sollte.
Peter ließ den Soldaten hinter der Tür sitzen und trat ins Nebenzimmer, wo seine Mutter gerade den Kleiderschrank schloss. Sie trug ihren Mantel und nahm den kleinen Koffer vom Bett. Peter wollte ihr sagen, es tue ihm leid, dass er das Schloss vergessen hatte, dass er ihr nicht hatte helfen können, aber er brachte nur ein Wort über die Lippen, und das war Mutter. Er griff nach ihrer Hand. Sie machte sich los und ging voran.
Sie gingen vorbei an dem schluchzenden Soldaten, der auf dem Küchenboden hinter der Wohnungstür kauerte, sie gingen die Treppe hinunter, die Straße hinunter geradewegs zum Fischbollwerk. Die Mutter lief mit ihren langen Beinen so schnell, dass Peter Mühe hatte, hinterherzukommen. Er lief im Hüpfschritt, und während er so hinter ihr herlief, schon sprang, fast rannte, überkam ihn ein großes Glücksgefühl. Ihn durchströmte die Gewissheit, dass sie heute den Zug bekommen würden, heute würden sie sich auf die große Reise machen, die Reise nach Westen. Peter ahnte, dass es nicht nach Frankfurt gehen würde, vielleicht nach Bautzen zur Schwester der Mutter, und zuerst Richtung Berlin. Früher hatte ihm seine Mutter beim Einschlafen von dem Fluss erzählt, dem schönen Marktplatz in Bautzen und dem wunderbaren Geruch im Druckhaus ihrer Eltern. Peter klatschte in die Hände und begann zu pfeifen, bis die Mutter ganz unvermittelt vor ihm stehenblieb und befahl, mit dem Pfeifen aufzuhören. Wieder versuchte Peter ihre Hand zu nehmen, aber die Mutter fragte, ob er nicht sehen könne, dass sie den Koffer und ihre Handtasche trage.
Ich kann den Koffer tragen, bot Peter an. Die Mutter lehnte ab.
Peter hatte seine Mutter oft zum Fischmarkt begleitet. Eine der wenigen noch arbeitenden Fischfrauen kannte die Mutter gut. Es war eine junge Frau, deren Gesicht seit dem letzten August verbrannt war, man konnte ihre Jugend kaum noch erkennen. Während die Verbrennung anfangs als Makel erschien, mochte der Makel die junge Frau in diesen Wochen schützen. Sie war die einzige, die noch jeden Tag in der Frühe einen großen roten Schirm aufspannte, wie damals, sagten die Leute. Damals, und sie meinten vor nicht allzu langer Zeit, habe der ganze Fischmarkt aus großen, roten Schirmen bestanden. In den letzten Jahren und Monaten waren sie verschwunden. Bei dieser Fischfrau holte die Mutter häufig den Fisch für die Kinder, Aale, Zander, Bleie, Schleie, Hechte und manchmal einen Wanderfisch aus dem Haff, im
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