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Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Titel: Die Mittagsfrau: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Franck
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schon.
    Engelchen, das kann sie doch nicht wissen. Sie wird nicht genau hingeschaut haben.
    Hast du ihre Lippen gesehen, wie sie geschminkt ist?
    Zinnober. Und ihr Haar, kurz bis zu den Ohrläppchen, das ist die Stadt, Engelchen. Morgen schneide ich dir dein blondes Haar ab, sagte Martha, sie lachte nervös und öffnete den Koffer. Mit beiden Händen wühlte sie und seufzte erleichtert, als sie ihr kleines Täschchen fand. Sie drehte Helene den Rücken zu und schüttete den Inhalt des Täschchens auf dem Waschtisch aus. Helene setzte sich vorsichtig auf das eine der beiden Betten. Sie streichelte den Überwurf, der weich war. Das Wort Kaschmir kam ihr in den Sinn, aber sie hatte keine Ahnung, wie sich Kaschmir anfühlte. Unter Marthas Armen hindurch sah He lene, wie Martha ein kleines Fläschchen öffnete und die Flüssigkeit mit der Spritze aufzog. Ihre Hände zitterten. Sie krempelte den Ärmel ihres Kleides hoch. Geschickt schlang sie sich ihr großes Taschentuch als Binde um den Arm und setzte die Spritze an.
    Helene war erstaunt über die Offenheit, mit der Martha sich ihr zeigte. Noch nie hatte Martha vor ihren Augen zu der Spritze gegriffen. Helene stand auf und trat an das Fenster, das zu einem schattigen Hof mit Ahornbäumen, einer Teppichstange und einem kleinen Brunnen hinausging. Osterglocken blühten in die blaue Stunde.
    Warum machst du das jetzt?
    Martha in ihrem Rücken antwortete nicht. Sie presste den Inhalt der Spritze langsam in ihre Vene und sank dann rückwärts auf das Bett.
    Engelchen, gibt es einen schöneren Augenblick als diesen? Wir sind angekommen. Wir sind da. Martha rekelte sich auf dem Bett und streckte einen Arm nach Helene aus. Berlin, sagte sie leise, als sterbe ihre Stimme und ertrinke im Glück, das sind jetzt wir.
    Sag nicht sowas. Helene machte einen Schritt zum Koffer hin, fand in der Tasche des Deckels ihre Bürste und öffnete ihr Haar.
    Das Gift ist süß, Engelchen. Schau mich nicht an wie eine Verdammte. Ich sterbe, ja und? Ein wenig leben wird doch vorher noch gestattet sein? Martha kicherte, dass es Helene für einen Augenblick an die im Wahnsinn zurückgelassene Mutter erinnerte.
    Auf dem Rücken liegend streifte sich Martha mit den Füßen die Schuhe ab, deren lange Senkel sie offenbar schon zuvor gelöst hatte, sie öffnete die Knöpfe ihres Kleides und legte wie selbstverständlich eine Hand auf ihre entblößte Brust. Weiß war ihre Haut und dünn und fein, so fein, dass Helene die Adern darunter schimmern sah.
    Helene kämmte sich ihr Haar. Sie setzte sich an den Waschtisch und goss aus dem silbernen Krug etwas Wasser in die Schüssel, sie nahm die selten duftende Seife in die Hände, Lavendel aus dem Süden, und wusch sich. Martha seufzte in Abständen.
    Singst du mir ein Lied, Engelchen?
    Was soll ich denn singen? Helenes Stimme war eingetrocknet. Trotz des langen Nachmittagsschlafes im Zug war sie matt und vermisste in sich die Freude und das Glück, das sie mit ihrer Ankunft in Berlin erwartet und noch auf dem Bahnhof empfunden hatte.
    Liebst du mich, Herzchen, Goldblatt mein?
    Helene drehte sich zu Martha um. Es fiel Martha schwer, ihre Augen auf Helene zu konzentrieren, immer wieder glitten sie ihr davon und es schien, als sperrten ihre Pupillen die Augen bis zum Rand.
    Martha, brauchst du Hilfe? Helene betrachtete ihre Schwes ter und fragte sich, ob es ihr danach immer so ging.
    Martha summte eine Melodie, die in Helenes Ohren nur selten bekannt klang, ein Schlingern zwischen Fis-Dur und b-Moll. Ob sie ein Klavier hat, die Tante?
    Du hast schon ewig nicht gespielt.
    Noch ist es nicht zu spät. Martha kicherte wieder sonderbar und schmatzte sanft, als falle es ihr schwer, das Kichern hinunterzuschlucken. Sie würgte. Im nächsten Augenblick richtete sich Martha auf, griff nach einem der kleinen roten Gläser, die auf der Vitrine standen, und spuckte hinein.
    Das ist edel, so ein Spuckgläschen. Sie hat für alles gesorgt, unsere feine Tante.
    Martha, was soll das? Helene nahm ihr Haar zusammen, drehte es an den Seiten ein und steckte es auf. Wir müssen in einer halben Stunde da draußen erscheinen. Schaffst du das? Kannst du dich zusammenreißen?
    Warum die Sorge, Engelchen? Habe ich nicht alles geschafft, bisher, ich meine, alles?
    Vielleicht öffne ich das Fenster.
    Alles, Engelchen, was blieb mir anderes übrig, als alles zu schaffen. Aber jetzt sind wir da, Goldblatt.
    Warum nennst du mich Goldblatt, so hat Vater mich genannt. Helene wollte wohl die

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