Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Titel: Die Mittagsfrau: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Franck
Vom Netzwerk:
Mann, der gerade ihren Schrankkoffer in Ermangelung eines Besitzers auf den großen Gepäckwagen für nicht abgeholte Stücke schieben wollte.
    Rote Fahne! Rief ein dünnes Mädchen mit einem kleinen Handwagen voller Zeitungen. Rote Fahne!
    Die Vossische!
    Der Völkische Beobachter! Helene erkannte den jungen Zeitungsburschen von vorhin. Wie alt mochte er sein? Zehn? Zwölf? Besetzung im Ruhrgebiet dauert an! Keine Kohle für Frankreich! Erdbeben in China! Auch er rief jetzt das Erdbeben aus, obwohl zweifelhaft war, dass sich seine Zeitung schon damit befasste.
    Kaufen Sie die Weltbühne, meine Damen und Herren, ganz druckfrisch, die Weltbühne! Ein auffallend großer Herr mit Hut, Brille und Anzug lief in langen Schritten den Bahnsteig entlang. Obwohl er mit einem seltsamen Akzent sprach, hinter dem Helene sofort einen Russen vermutete, fanden seine kleinen, roten Hefte besten Anklang. Kurz nachdem er an Martha und Helene vorübergeschritten war, nahm ihm eine elegante Dame das letzte Heft ab.
    Erst als jemand Vorwärts! Vorwärts! Vorwärts! rief, fasste Helene den mutigen Entschluss, ein Bündel Markscheine aus der Manteltasche zu ziehen. In ihrem Mantel steckte noch die Zitrone. Die Markscheine rochen jetzt nach Zitrone. Schließlich kannte sie den Vorwärts, und es sah hoffentlich fein und gebildet aus, wenn sie mit einer Zeitung unter dem Arm bei der Tante eintrafen.
    Sie nahmen eine Droschke mit mehreren Sitzen, vielleicht war es das, was Tante Fanny mit einem Kremser meinte. Die Häuser und Litfaßsäulen warfen schon lange Schatten. Am Schöneberger Ufer kam die Droschke zum Stehen, es sah aus, als wollte sich das Pferd verbeugen, es ging auf die Knie, die Vorderbeine sackten ihm ein, es krachte, Holz knackte, und das Pferd fiel seitlich in das Geschirr. Der Kutscher sprang auf. Er schrie etwas, stieg ab und klopfte dem liegenden Pferd auf den Hals, er ging um die Kutsche herum, nahm den Eimer vom Haken und entfernte sich ohne ein erklärendes Wort. Helene konnte erkennen, dass er zu einer Pumpe ging, wo er warten musste, bis ein anderer seinen Eimer voll hatte und er drankam. Die Laternen entlang der Straße wurden angezündet. Überall leuchtete und funkelte es. So viele Lichter, Helene stand auf und drehte sich rundherum. Ein Automobil mit einem lustigen Schachmuster, das sich wie eine Borte rund um das Gefährt rankte, hielt neben ihnen. Ob sie Hilfe benötigten, wollte der Fahrer aus seinem Fenster heraus wissen. Vielleicht brauchten sie ein Taxi? Aber Martha und Helene schüttelten den Kopf und blickten sich wieder nach ihrem Kutscher um. Der Taxifahrer ließ sich das nicht zweimal sagen. Vorn auf der Kreuzung winkte ein junger Mann nach ihm.
    Wir hätten vielleicht umsteigen sollen, Helene blickte sich um. Der Kutscher kam mit dem Eimer Wasser in der Hand zu rück. Er spritzte das Pferd nass, schüttete dann den ganzen Eimer Wasser über das Pferd, aber das Pferd rührte sich nicht. Die Sonne war untergegangen, die Vögel zwitscherten noch, es wurde kühl.
    Ham Ses noch weit? Das war das erste, was der Kutscher jetzt zu ihnen sagte.
    Martha und Helene zuckten unschlüssig die Schultern.
    Ach ja, Achenbach. Det is weit, kann ick nich lofen, Ihr Jepäck is ja och noch da. Der Kutscher sah betrübt aus.
    Ein Wachmann schlenderte heran. Der Koffer wurde abge laden, Martha und Helene mussten absteigen. Ihnen wurde eine andere Droschke gewunken. Der Himmel war blau, als sie schließlich vor dem Haus in der Achenbachstraße ankamen. Der Hauseingang des vierstöckigen Hauses war erleuchtet, eine breite fünfstufige Steintreppe führte zu der eleganten Eingangstür aus Holz und Glas. In der Tür wartete ein Diener, der sie willkommen hieß und zur Droschke trat, um ihren Koffer in Empfang zu nehmen. Martha und Helene stiegen die breite Treppe hinauf in die Beletage. War das Marmor, echter, italienischer Marmor?
    Da seid ihr endlich, rief eine große Frau. Sie streckte Martha und Helene ihre Hände entgegen, die bis über den Ellenbogen in Handschuhen steckten. Darüber glänzten nackte Schultern. Martha zögerte nicht lang, sie ergriff eine Hand, verneigte sich und küsste sie.
    Nicht doch, sind wir bei Königen? Meine Nichten. Tante Fanny drehte sich auf dem Absatz und ihr langer Schal wehte Helene ins Gesicht. Anerkennend nickten einige der umherstehenden Damen und Herren, sie hielten den Schwestern zum Zeichen des Willkommens ihre Gläser entgegen und prosteten sich gegenseitig zu. Die Damen trugen Kleider

Weitere Kostenlose Bücher