Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
aber es schien, als hielte sie Helene für ein unschuldiges Kind und wollte sie alles dafür tun, dass sich daran nichts ändere. Manchmal glaubte Helene, an Fanny eine Scheu ihr gegenüber zu erkennen. Bestimmte Dinge besprach sie nur mit Martha, ob es sich um die Garderobe oder den Klatsch der Gesellschaft handelte. Selten hatte Helene die neun Jahre Altersunterschied zwischen Martha und sich so groß empfunden wie in Gegenwart der Tante. Gewöhnlich standen alle Türen in der Beletage offen. Doch wenn Fanny Martha zu sich in ein Zimmer rief, schloss sie häufig die Tür, und Helene ahnte, dass Fanny hinter der Tür ihre kleine runde Dose mit dem Löffelchen und dem weißen Pulver zum Vorschein brachte, das sie einzig mit Martha teilte, mit niemandem sonst. Dann lauschte Helene auf Zehenspitzen und hörte sie schnupfen und seufzen, und Helene bereute in diesen Augenblicken, in denen sie auf Zehenspitzen mit kalten Füßen in einem dunklen Flur stand und ihr nur das Pendel der weißen, englischen Standuhr mit ihrem goldenen Ziffernblatt Gesellschaft leistete, dass sie mit Martha nach Berlin gegangen war. Kein einziges Mal hatte Fanny gefragt, ob Helene sie abends begleiten wolle.
Nur wenn Leontine mit Martha in den etwas abgetakelten Lunapark ging, durfte Helene mitgehen. Dort ließen sich die Mädchen im alten Wellenbad treiben, dessen Wellen nur noch vom Wind erzeugt wurden, sie unterhielten sich, sie planschten, und es war ihnen gleich, wenn die am Beckenrand lungernden jungen und älteren Herren sie dabei beobachteten. Das Wellenbad trug in der Stadt die Spitznamen Nymphenbecken und Nuttenaquarium, was den Mädchen als schlechte Formulierung für die Lebensfreude junger und älterer Herren erschien. Die Mädchen bezahlten ihren Eintritt selbst, sie mochten die Wellen und die Rutschbahn in den See. Nahm das den männ lichen Zuschauern nicht das Recht, sich als Luden und auch nur als potenzielle Freier zu fühlen?
Die Stadt ist klein, das verrate ich euch. Alle Welt hält sie für groß, weil sie eine so wunderschöne Seifenblase unserer Phantasien ist. Fanny zündete sich eine ihrer englischen Zigarren an und legte ihren Kopf in den Nacken. Jede eurer phantastischen Blasen dehnt sie, macht sie größer, schillernder, fragiler. Taumelt sie? Fanny zog an der dünnen Zigarre. Steigt sie? Fanny paffte kleine Ringe. Sinkt sie? Fanny gefiel ihre Idee, dann verschwand ihr Lächeln. Gut, wenn du Geheimnisse wahren kannst, Helene. Das wird der Apotheker zu schätzen wissen. Und ich auch. Ich werde ihn fragen. Fanny nickte, als müsse sie ihre Worte bekräftigen und sich Mut machen. Sie nahm den letzten Schluck Weinbrand aus ihrem Gläschen, tupfte sich mit dem Taschentuch behutsam die Nase ab. Ihr rann eine Träne aus dem Augenwinkel. Meine Sinne, Kinder, ich liebe euch. Ihr wisst, dass ihr nicht arbeiten müsst? Warum sollte es euch schlechter gehen als Erich und Bernard. Bleibt bei mir. Füllt mir das Haus wie das Herz, sagte sie und war nun sichtlich ergriffen und gerührt. Ob von ihrer Einsamkeit oder der Vorstellung eines großen Herzens, das fragte sich Helene. Fanny schnäuzte sich und streichelte Cleos Schnauze.
Es läutete an der Tür. Wenig später erschien Otta und meldete einen Besuch an. Ihr Freund, Mademoiselle, der Herr Baron. Er kommt mit mehreren Koffern. Soll ich ein Zimmer herrichten?
Ach, habe ich das vergessen? Meine gute alte Otta, bitte, ja, richten Sie ein Zimmer, das goldene am besten. Er wird länger bleiben, er möchte sich in Berlin umsehen. Zu Martha sagte Fanny: Er ist Maler, ein echter Künstler. Fanny riss ihre geröteten Augen auf. Die Asche ihrer Zigarre war lang geworden. Suchend blickte sich Fanny um. Sie hatte den Aschenbecher aus dem Auge verloren und streifte die Asche nun an dem Teller mit Mohnkuchen ab. Er hat es in Paris versucht, jetzt kommt er her. Hier kann er malen bis zum Umfallen. Wenn es das nur wäre. Heute will ja jeder gleich einen Club gründen und Häuptling werden. Fanny schüttelte sich. Kürzlich war sie einem kleinen, aufgedrehten Mann begegnet, der viel von sich reden und sich selbst einen Namen gemacht hatte, einem Künstler, der sich gegen jeden Inhalt wehrte. Allein die Form galt ihm, das Dasein als Künstler, die Anerkennung und, freilich, die Gefolgschaft. Er gründete einen Club und ernannte sich selbst zum Häuptling. Es war ihm ernst, das erstaunte Fanny. Etwas an der Begegnung musste Fanny nachhaltig missfallen haben, womöglich war es der Anspruch
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