Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
nur manchmal, wenn sich eine gute Gelegenheit ergab, brachte Helene für Martha etwas Morphium aus der Apotheke mit. Im Berliner Zimmer saß der Baron auf der Chaiselongue und erwartete Helene mit seinen traurigen und verlorenen Augen. Dass er sie nur ansah und nicht anrührte, mochte Helene. Alle Frauen um sie herum pflegten Verhältnisse. Helene fühlte sich nicht mehr zu jung, nur konnte sie sich nicht entscheiden. Sie verband den Arm des Barons und kühlte und wärmte ihm die Sehne. Er schenkte ihr ein Sträußchen hellgelbe Astern. Sie nahm es gerne an. Schon während sie die Blumen in eine Vase stellte, stellte sie sich vor, es wären späte Rosen und wie es wäre, wenn Clemens, der Apotheker, ihr diese Blumen geschenkt hätte. Helene wollte lieben, mit aller Unbedingtheit und Furcht, die wohl dazu gehörte. Aber war das schon alles, das Kitzeln im Bauch und das Flimmern unter der Brust? Sie musste lächeln. Fannys Glauben, es handele sich bei Clemens um einen Freund, konnte Helene nicht teilen. Der ausgemergelte Apotheker, an den Helene häufig denken musste, wenn sie mal einen Tag frei hatte, blickte weder Fanny noch einer anderen Frau länger in die Augen als nötig. Auch sah er keiner von ihnen nach und sprach kein Wort zuviel. Einzig, wenn seine Frau die Apotheke betrat und mit zwei, drei ihrer insgesamt fünf kleinen Kinder an den Rockzipfeln etwas abholen oder erfragen wollte, die Kälte hatte ihr rundes Gesicht gerötet und ihre riesigen blauen Augen leuchteten, öffnete sich das Gesicht des Apothekers und er erwachte. Er küsste seine Frau und herzte seine Kinder, als sähe er sie nur selten.
Der Apotheker kam aus keiner vermögenden Familie, er verdiente sein Geld schwer und musste Schulden für die Apotheke auslösen. Tagsüber verzehrte er sich nach seiner Frau und den Kindern. Wenn Fanny in ihm einen Freund sah, mochte es daran liegen, dass sie nicht erkannte, wie wichtig ihm das Geldverdienen war. Helene schrieb auf der Schreibmaschine für ihn die Bestellungen, Briefe und Abrechnungen. Er zeigte ihr, zu welchen Konsistenzen sich Fette und Säuren mischen ließen, brachte ihr notwendige Kenntnisse über die Reaktionen von Basen und Säuren bei und überließ ihr schließlich ein dickes Buch für das Lernen zu Hause. Helene wusste, dass sie diese Kenntnisse für ein mögliches Studium benötigen könnte, also eignete sie sich alles an, was ihr geboten wurde. Sie machte es sich zur Gewohnheit, dem Apotheker jeden Abend fünf Maiblätter, und wenn das große Glas leer war, ihm aus dem kleinen Glas Himbeeren und Veilchenbonbons einzupacken. Seine Kinder freuten sich darüber. Helene arbeitete seine Rechnungsbücher vor und rührte Salben an, sie blieb nach Ladenschluss in der Apotheke, wenn er schon nach Hause zu seiner Frau und seinen Kindern eilte. Das Abzweigen von Giften war ein Leichtes, nach kurzer Zeit kannte Helene die Unterschriften und Stempel der Ärzte, sie wusste, wer was wem verordnete und wo sie eine Null an die Bestellungen hängen konnte. Aus zwei Gramm Kokain wurden zwanzig, aber nur selten aus einem Gramm Morphium zehn und hundert. Die Bestellungen nahm sie selbst entgegen, sie wusste, wann der Lieferant kam. Sie ordnete die Gläser und Schachteln selbst, bestätigte den Empfang und wog die Substanzen. Der Apotheker wusste, dass er Helene vertrauen konnte. Sie entlastete ihn, in der Verantwortung, aber auch bei der Arbeit. Wenn sie die Kristalle zu Pulver rieb und in Kapseln stopfte und Flüssigkeiten in kleine Fläschchen füllte, genügten kurze Anweisungen und ein flüchtiges Lächeln. Im Laufe der Zeit lernte Helene hinzu, sie mischte Alkohol mit kostbaren Wirkstoffen und ermittelte Basen und Säuren der Tinkturen, so dass sie den Apotheker nicht weiter behelligen musste.
Aber das Lächeln des Apothekers war zu flüchtig. Ein sanftes Kitzeln im Bauch und ein Flimmern unter der Brust entfachte noch kein Feuer und bescherte Helene nicht das Verhältnis, von dem sie glaubte, dass sie es nun haben müsste.
Der Baron umschmeichelte sie und bewachte sie mit seinen aufmerksamen Blicken, nur ließ er jede noch so günstige Gelegenheit verstreichen, die Hand nach Helene auszustrecken.
Einmal saßen sie am frühen Abend beisammen, Martha hatte den Kopf auf Leontines Schoß gelegt und war eingeschlafen, Fanny stritt sich mit Erich über die weitere Abendgestaltung und Helene las aus der neuen Ausgabe von Rot und Schwarz vor. Der Baron hatte sich in den Sessel neben Helene gesetzt,
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