Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
nippte an einem Glas Absinth und lauschte.
Leontine entschuldigte Martha und sich, umständlich stand sie auf, Martha barmte, ihre Knochen, ihre Nerven, ihre Haarwurzeln taten weh, halb musste Leontine Martha tragen, halb stützte sie Martha, um mit ihr ins Bett zu kommen. Kaum hatten die beiden das Zimmer verlassen, sprang Erich entschlossen auf. Die Nacht sei jung, und das nicht lang, er wolle endlich aufbrechen. Fanny hielt ihn am Hemd fest. Erich schüttelte sie ab. Nimm mich mit, flehte sie. Türen schlugen.
Plötzlich war Helene mit dem Baron allein, sie las weiter, wie Julian Madame Rênal anbot, ihr Haus zu verlassen, wie er angeblich die Ehre seiner Herzensdame und doch auch beider Liebe retten wollte, wie sich die Dame erhob und zu allem Leid bereit war. War dies nicht der Augenblick, in dem der Abstand zwischen dem Baron und Helene so ganz geronnen war, geschmolzen? Angeregt durch die fremde Leidenschaft, die hier größer zu werden schien als die Seiten im Buch, musste er bloß seine Hand ausstrecken. Aber er hob den Arm nur, um seine Hand jetzt auf der Lehne seines Sessels, zwischen sich und Helene, abzulegen. Mit der anderen hielt er fest sein Glas, nahm den letzten Schluck und füllte sich das Glas neu auf. Helene bemerkte, wie ihre Ungeduld in Ärger umschlug. Sie hielt beim Lesen inne.
Möchtest du auch etwas trinken, Helene?
Sie nickte, obgleich sie nicht wollte. Nie hätte Stendhal Julian jetzt etwas derart Profanes sagen lassen. Helenes Blick fiel auf die erste Seite: Die Wahrheit! Die bittere Wahrheit! Helene ahnte, was dieser Stendhal mit dem Ausruf Dantons bezweckte. Unverdrossen goss der Baron Helene ein Gläschen ein, er pros tete ihr zu und fragte, ob sie nicht weiterlesen wolle. Vielleicht bemerkte der Baron ihr Zögern? Mit eigensinniger Freude holte er aus. Zwar sei er in Frankreich gewesen und spreche fließend, aber er habe in seinem Leben noch keine Zeit gefunden, diesen Roman zu lesen. Wie dankbar sei er nun, dass Helene ihm auch diese Welt eröffne. Helene spürte Müdigkeit aufkommen, nur halbherzig unterdrückte sie ein Gähnen. Eine Jungfrau sollte eine Jungfrau bleiben sollte eine Jungfrau bleiben. Während sie lustlos und bald angestrengt fortfuhr, erblassten ihre noch eben von der Erwartung geröteten Wangen. Ein Kopfweh kroch ihr den Nacken herauf. Als die Standuhr im Korridor ihren Gong zur vollen zehnten Stunde schlug, schloss Helene das Buch.
Ob sie nicht weiterlesen wolle? Der Baron wirkte erstaunt.
Nein. Helene stand auf, ihre Kehle war trocken, der Geschmack des Absinth verursachte eine leichte Übelkeit. Sie wollte nur noch in ihr Bett und hoffte, dass Martha und Leontine im gemeinsamen Zimmer schon fest schliefen.
Der Frühling flog vorbei; ohne Erwecken und Erwachen. Im Juni zur kürzesten Nacht wurde Helene neunzehn. Noch keine einundzwanzig, aber alt genug, wie Fanny und Martha meinten, um sie das erste Mal mit in die Weiße Maus zu nehmen. Fanny überreichte Helene einen schmalen Umschlag, darin steckte ein mit ihrer wunderbar liegenden Schrift verfasster Gutschein über einen Gymnasialkurs für Mädchen in der Marburger Straße. Der Kurs sollte schon im September beginnen, er würde sich gut mit Helenes Arbeit vertragen, da er abends stattfinden sollte. Aus unerfindlichem Grund hatte Fanny dem Gutschein den Titel Zur Bewährung gegeben, sie hatte diesen über allem thronenden Titel unterstrichen, und es schien Helene, als wolle sie damit auf jenen unsichtbaren Graben verweisen, der durch die Geste keineswegs zugeschüttet werden durfte.
Helene bedankte sich, aber Fanny sah sie nur streng an und begann mit Martha eine Unterhaltung über den im nächsten Jahr anstehenden ersten Schönheitswettbewerb auf deutschem Boden, an dem Martha nach Fannys Ansicht dringend teilnehmen sollte.
Lauter Knochen und Nerven, bündelweise, sagte Martha erschöpft.
Ach was, entgegnete Fanny, von außen sieht man besser. Schau dich mal an. Fanny legte Martha ihre lange Hand in den Nacken. Helene musste wegsehen.
Aus einer Laune heraus und zur Erschütterung des Barons schnitt Leontine Helenes Haare am Nachmittag kurz, kurz bis zum Ohrläppchen, der Haarsaum wurde im Nacken mit dem Messer angeschoren. Wie leicht ihr Kopf jetzt war.
Zur Feier des Tages, sagte Leontine und ließ sich zum Dank von Helene küssen. Dass Helene ihren angewachsenen Ohrläppchen jemals so nah sein würde! War es möglich, diese Ohrläppchen zu küssen? Helene berührte nur flüchtig mit ihren Wangen
Weitere Kostenlose Bücher