Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)
sich, als er ihren französischen Akzent wahrnimmt.
»Ja, um ehrlich zu sein, Monsieur. Ich suche jemanden.«
» Gut, ich lebe hier schon eine ganze Weile. Vielleicht habe ich eine Ahnung, wie Sie Ihr Ziel finden.«
Frau Wille schwingt ein Stromkabel über die Hecke und verschwindet wieder, nicht ohne einen scharfen Blick auf ihren Mann und die fremde Frau geworfen zu haben. Frank nimmt es auf und stöpselt die elektrische Heckenschere ein. Madeleine sieht, dass das Kabel viele Male geflickt ist, wo die Schere es durchtrennte.
Etwas in der Stimme von Frank sagt ihr, dass er nicht oft hilfsbereit ist, sondern eher griesgrämig zuschaut, wie sich jemand zurechtfindet. Als habe er ihre innere Frage erhorcht, sagt er: »Ich habe sie beobachtet. Eine junge Frau, nicht aus Bergborn. Modisch gekleidet, außergewöhnlich für diese Region.«
Franks Stimme ist dunkel, für einen Bergmann erstaunlich kultiviert und freundlich. Madeleine begreift, dass ihre Maman sich einst zu diesem Mann hingezogen fühlte. Wie sie von Fotos weiß, war ihr Stiefvater, den sie nie kennenlernte, ein kantiger dunkler Typ, ein Colonel der Fremdenlegion, einer dieser Männer, die mehr Haare auf dem Rücken haben als auf dem Kopf, wohingegen Frank Wille eine Eleganz ausstrahlt, die im krassen Gegensatz dazu gestanden haben muss.
Und doch hat Frank Wille meinen leiblichen Vater getötet! Gezwungenermaßen tat er es, deshalb hadere ich nicht damit. Das ist die Wahhreit, die Maman so lange geheim hielt.
» Danke für Ihre Frage. Das ist sehr nett«, sagt Madeleine und schielt zur Hecke, ob irgendwo Frau Wille lauscht. »Ist das Ihre Frau?«
» Ja. Sie ist reingegangen und schmiert ein paar Brötchen. Vielleicht können Sie das Kabel ein paar Minuten halten, bis meine Frau wiederkommt? Wissen Sie, sonst habe ich es nach zwei Minuten wieder zerschnitten. So sehr ich mich bemühe, einmal pro Heckenschnitt passiert es trotzdem. Dann gibt es einen Kurzschluss und im Haus fliegen die Sicherungen raus und das Kabel muss wieder geflickt werden. Lieber wäre es mir, die Schere hätte einen Benzinmotor, aber so etwas gibt es leider nicht, jedenfalls weiß ich nichts davon.«
» Ich helfe Ihnen gerne.«
» Und dabei erzählen Sie mir, wohin Sie wollen.«
Sie schweigt und er sieht sie fordernd an.
»Ein Taxi!«, schnellt es über ihre Lippen, ohne dass sie dessen bewusst ist. »Ich suche einen Taxistand.«
Ich suche den Mann, der Michele Legrange schwängerte!
Frank Wille schmunzelt. »Einen Taxistand hier in Bergborn? Sie kommen wohl aus der Stadt, oder? Nein, wir müssen ein Taxi mit dem Telefon anrufen und es holt sie ab.«
» Ich möchte zum Bahnhof.«
» Hätte ich nicht schon zwei Flaschen Bier intus, würde ich Sie fahren, aber wir können ins Haus gehen und meine Lotte ruft Ihnen eins.«
» Das ... das wäre nett.«
Er legt die Heckenschere ab. »Kommen Sie mit. Vielleicht haben Sie Hunger. Ich spendiere Ihnen eine Brötchenhälfte oder auch zwei.«
» Nein ... ja ...«
Sie trottet hinter ihm her und bewundert seine noch immer breiten Schultern und sein schmales Gesäß. Sie betreten das Haus.
»Lotte?«, ruft Frank. Sie kommt aus der Küche und erstarrt.
» Die junge Frau braucht ein Taxi. Ich dachte, wir rufen ihr eines.«
» Ja, das können wir«, sagt Lotte Wille.
Eine kühle Frau, denkt Madeleine. Das Gesicht mochte einst schön gewesen sein, nun besteht es aus Kanten und Ecken mit wässrig trüben Augen. Außerdem bewegt sie sich, als habe sie Schmerzen. Eine Frau, die zu viel erlebt und gesehen hat. In gewisser Weise ähnelt sie Maman. Sind sie so, die Frauen, die den Krieg überlebt haben? Ist ihnen das weiche, das Frauliche abhanden gekommen? Sie wirkt zierlich und doch unzerstörbar, hat diese Energie in sich, als habe sie ein Blitz getroffen, wie eine nervöse Maus. Frank wird vor ihr sterben, denn sie wird ihre Dynamik noch viele Jahre beibehalten, es wird ihr Lebenselixier sein, und irgendwann wird sie, auf die Welt und alles schimpfend, vergehen wie eine vertrocknende Pflanze.
Madeleine nimmt alles um sich herum wahr, während Frau Wille im Telefonbuch sucht und die Wählscheibe dreht.
Das Haus ist bieder eingerichtet, alles ist blitzsauber, kein Staubkorn, wohin man blickt. Es riecht weder nach Zigaretten, noch nach anderen unangenehmen Stoffen, sehr sorgfältig gelüftet. Nichts ist neu, alles wirkt bescheiden, aber bequem. Die Tapeten sind bunt gemustert, wie es in den Siebzigern Mode war, die Möbel scheinen mehr
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