Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)
erklärt.
Frauen schreien, irgendwo fällt ein Schuss, Kinder heulen und nach fünfzehn Minuten gibt Legrange den Befehl, abzurücken. Sie wissen, wo sie die Schlitzis finden, und werden ihr Lager ausnehmen. Die Männer schubsen drei, nein vier Frauen vor sich her, die anderen bleiben zurück und zetern und jammern.
Römer sagt zu Frank: »Komm, Wille. Machen wir ein Abschiedsfeuer.«
» Bist du wahnsinnig?«
Römer verdreht die Augen, läuft zurück und zündet zwei Hütten an. Sofort brechen die Flammen hoch, und er lacht und freut sich und kommt zu seinen Kameraden zurückgetanzt wie ein großer Gnom, während die Frauen in ihrem Gewahrsam schreien und weinen und überall die Hölle los ist. »So ergeht es euch, wenn ihr uns verarschen wollt!«, ruft Römer und lacht.
Legrange donnert Befehle.
Sie ziehen ab, während hinter ihnen der Dschungel lodert.
Es interessiert sie nicht mehr.
Sie hatten ihren Spaß. Sie sind den mentalen und körperlichen Überdruck los, und wenn die neuen Frauen erst mal richtig eingeritten sind, wird es noch mehr Spaß geben, falls man so lange überlebt.
Viele überleben den Hinterhalt nicht. Die Frauen hatten gelogen. Sie hatten im Angesicht des Todes die Unwahrheit gesagt. Nur wenige Minuten abseits des Dorfes werden die Männer der RAI überfallen und die Vietnamesen töten erbarmungslos.
Es ist eine blutige Schlacht, die mit der Flucht der Vietnamesen endet. Sie huschen zurück in den Dschungel, wohin man ihnen nicht folgen konnte, doch ihre einfachen Waffen haben viele Opfer gefordert.
» Ich begegnete diesem Mann vor einigen Jahren wieder, als man uns für eine Weile nach Zeche Nordborg verlegte. Er arbeitete als Hauer. Er erzählte mir, er habe eine Frau und drei Kinder und lebe glücklich.«
Lotte sieht ihn mit weiten Augen an.
Frank fragt: »Sollte seine Frau nicht erfahren, dass ihr Mann ein Monster ist? Darf er seine Kinder in der Nacht küssen, obwohl er ohne Skrupel ist? Darf man dieses Wissen verheimlichen? Lieber Gott, er mordete, weil es ihm Spaß machte und völlig sinnlos.«
» Und dein Freund? Legrange? Er zog diesen Römer nicht zur Verantwortung?«
Frank lacht bitter. »Warum sollte er das? Es gab viel schlimmeres, was im Namen der Fremdenlegion geschah. Da ging es nicht nur um ein paar brennende Hütten. Du willst es nicht wissen, glaube mir. Aber das ist nicht der Grund, warum ich dir das erzählte.«
» Ich verstehe, was du sagen willst. Aber Ottilie ... ist nicht so.«
» Sie wird vielleicht bald einen Mann kennenlernen. Darf man ihm verheimlichen, wie grausam konsequent seine Zukünftige sein kann? Hat man nicht die Verpflichtung, für die Wahrheit zu sorgen?«
» Liebe Güte, Frank, sie ist deine Tochter.«
» Steht sie deshalb außerhalb jeder Moral und Ethik?«
» Stehst du über dem Gesetz?«
» Nein, gewiss nicht.«
» Was geschähe mit Römers Kindern, mit seiner Frau? Ist es nicht manchmal besser, die Vergangenheit bleibt, wohin sie gehört?«
Unterm Teppich?
»Wer vor seiner Vergangenheit flieht, verliert immer das Rennen, Lottchen.«
» Das mag sein, aber glaubst du, Römer wird ein besserer Mensch, wenn du ihn bloßstellst? Glaubst du, Ottilie wäre befreit, wenn du ihr die Wahrheit entlockst? Was willst du bewirken?«
» Ich weiß es nicht ...«
» Du willst Gerechtigkeit. Für wen?«
» Für mich? Ja, das ist es vielleicht. Um endlich wieder in den Spiegel sehen zu können, ohne dieses versteckte Wissen, das so schwer auf meiner Seele liegt. Ich bin ein alter Mann und ein Koffer voller Geheimnisse.«
» Auge um Auge ... und die ganze Welt wird blind sein.«
Frank lächelt. »Seit wann hältst du es mit Ghandi?«
Sie zuckt mit den Achseln. »Ich das von ihm? Keine Ahnung.«
Frank knurrt.
Lotte weist auf den Komposthaufen. »Bevor wird das Auto waschen, schneiden wir die Hecke, ist das in Ordnung?«
Frank nickt. Lottchen hat das Thema beendet. Nun kann er es nicht neu aufgreifen. So ist sie, wenn sie will. Schnell, sprunghaft und pragmatisch. Sie hat mit wenigen Worten alles blankgeputzt, das Silber poliert und die Spiegel gereinigt.
Schau hinein!, scheint sie zu sagen. Das bist du und du bist ein guter Mann. Die Welt dreht sich weiter und unsere Familie ist das wichtigste Band. Würde überall Gerechtigkeit herrschen, begänne das Leben eines jeden Menschen in einer Zelle und endete auch dort.
Er lächelt. Sie hat das nicht gesagt, aber er stellt es sich vor. Aus den Augenwinkeln sieht er eine junge Frau,
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