Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)
die sich neben der Straßenlaterne eine Zigarette anzündet und zu ihnen herüberblickt. Etwas an ihr erregt sein Interesse. Er nimmt sie wahr ... und vergisst sie wieder.
Er steht auf. Die Hecke wartet.
12
Es ist erstaunlich, wie sehr sie ihrem Vater ähnelt. Madeleine zieht an der Zigarette und sieht dem Paar zu, wie es im Garten arbeitet. Hin und wieder richtet der Mann sich auf und sein Kopf hüpft über die Hecke , manchmal kann sie ihn auch ganz sehen, je nachdem, wo er sich befindet. Dann vergleicht sie.
Die lange, schmale Nase, das vorspringende Kinn, die hellen Augen und die dünnen Haare, eine hohe Stirn und schmale Lippen, die zu selten lächeln. Ein nordischer Typus, der mit ihr wenig zu tun hat. Doch es sind seine Bewegung, dieses etwas tapsige, die eine hängende Schulter. Es gibt eine Ähnlichkeit auf Bildern und eine, die man im Herzen findet.
Wie kann sie sich Frank Wille zu erkennen geben, ohne einen Familienskandal zu beschwören? Und wie soll sie ihm sagen, dass er folglich ein vermögender Mann ist?
Sie beobachtet Frank und seine Frau, zwei ältere Menschen, die fleißig Seite an Seite arbeiten, sehr genau wissen, was sie im Garten zu tun haben und harmonisch wirken. Wie ein Paar, das durch dick und dünn gegangen ist und allen Widrigkeiten getrotzt hat. Sie haben eine gewisse Aura, eine undurchdringliche Schale, die sich wie die einer Walnuss um sie gebildet hat, und die man nur schwer zerstören kann.
Es gibt, so viel Madeleine weiß, in Deutschland die Redensart: Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg! Das würde zu den beiden passen.
» Frank ...«, murmelt sie, was wie Froonk klingt. »Vater.« Immer wieder lässt sie das deutsche Wort über die Lippen rollen. »Vater.« Frank weiß nichts von ihr, hatte Maman vor ihrem Tod gebeichtet. Sie wollte das Kind nicht nach Deutschland geben und mit Frank verband sie zu wenig. Eine Weile, bevor das Kind kam, hatte sie ihm nachgesetzt und bittere, verletzende Briefe geschrieben, von denen sie insgeheim hoffte, sie kämen in falsche Hände. In diesen Briefen beschuldigte sie Frank, ihren Mann aus Eifersucht getötet zu haben. Als Madeleine auf die Welt kam, besann sie sich und ließ ihre Anschuldigungen sein. Das schlechte Gewissen begleitete sie ein ganzes Leben lang.
Sie eröffnete eine Kunstgalerie, und als es ihr 1962 gelang, den Künstler Hervé Télémaque zu verpflichten, war der Erfolg nicht mehr aufzuhalten. Sie begleitete ihn 1964 auf die Biennale von Venedig, 1968 auf die Documenta und leitete eine Retrospektive im ARC Musée d’art moderne in Paris. Selbstverständlich kamen danach weitere Künstler zu ihr, die sie sich künftig aussuchen konnte.
Ben Vautier ließ sie abblitzen, und Yves Klein nahm sie auf.
Zuhause gab sie die geizige, strenge Mutter, mit der Zigarette im Mundwinkel, die Haare streng zum Dutt gekämmt, und Madeleine, die mit Kunst nichts anzufangen wusste, kam sich oftmals vor, als sei sie zu Besuch beim Monstre Noir oder bei Dalis Muse Gala.
Wie bei vielen Menschen, die dunkle Geheimnisse bewahren, öffnete sich die Büchse der Pandora auf dem Totenbett, wenn man um einen Platz im Himmelreich kämpft und auf Absolution hofft.
Wie viel, fragt sich Madeleine, hat Frank Wille seiner Frau erzählt? Weiß sie von Maman, von Michele Legrange? Würde sie ertragen, eine erwachsene Stieftochter geschenkt zu bekommen, oder wird diese Offenbarung, trotz des Geldes, die Familie in den Abgrund ziehen?
Madeleine wirft die Zigarette weg und fragt sich, wie sie Kontakt zu Frank finden soll, ohne dass seine Frau davon erfährt. Sie beobachtet den Mann schon geraume Zeit und weiß, dass er kaum einmal das Haus verlässt. Frau Wille hingegen geht regelmäßig einkaufen, zu Fuß. In dieser Zeit ist Frank alleine.
Madeleine ahnt, dass sie sich in Geduld üben muss.
Oder soll sie einfach zu den Beiden gehen? Mit ihnen reden? Die Wahrheit schmerzt sowieso, warum nicht ein großer Schmerz, der bald vorbeigeht?
Sie findet keine Lösung und möchte sich soeben eine weitere Zigarette anzünden, als Frank Wille, die Heckenschere unter dem Arm, nach draußen, auf den Bürgerstein tritt und sie freimütig ansieht.
» Kann ich Ihnen helfen?«, fragt er. »Haben Sie sich verlaufen? Suchen Sie jemanden?«
Die junge Frau starrt ihn an und Frank kann ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Er sucht bei ihr einen Stadtplan, denn so, wie sie wirkt, weiß sie nicht, wo sie sich befindet. Sie ist keine von hier und das bewahrheitet
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