Seelenriss: Thriller
P ROLOG
Am späten Nachmittag des 25. Mai …
Lynn Maurer zog ihren aufklaffenden Bademantel zu und brachte kaum mehr als ein gequältes Wimmern zustande. Warmes Blut lief ihr über die nackten Oberschenkel, zugleich schoss ihr ein brennender Schmerz durch den Körper, und Unmengen Adrenalin pulsierten durch ihre Adern. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und riss sich mit letzter Kraft zusammen.
Am Morgen war ihre Welt noch in Ordnung gewesen. Es war ein Mittwochmorgen wie jeder andere, sie hatte ihre Kleider und ihren neuen Reisepass abgeholt und sich wie immer an ihrem freien Tag mit Annette getroffen.
Annette war Sozialarbeiterin in einem Berliner Problembezirk und hatte soeben ihren zweiten Alkoholentzug erfolgreich hinter sich gebracht. Seit drei Jahren waren Annette und sie mehr als nur gute Freundinnen, und jedes Mal, bevor sie im Eingang des Hotels am Kurfürstendamm verschwand, vergewisserte sie sich, dass ihr niemand gefolgt war. Sie hatte Annette im bevorstehenden Kurzurlaub endlich von dem Baby erzählen wollen. Gleichzeitig wollte sie ihre Freundin um etwas Aufschub bitten, was ihre Trennung von Sven anbelangte. Doch ehrlich gesagt hatte sie wenig Hoffnung, dass Sven sie jemals gehen lassen würde. Eher würde er sie halb totschlagen, sobald er von ihrem Doppelleben Wind bekäme – und das ohne Rücksicht auf das Kind in ihrem Bauch. Langsam hob sie die geschwollenen Lider und starrte auf das Diktiergerät, das eingeschaltet vor ihr auf dem Esstisch stand. »Ich habe gesündigt, o Herr«, presste sie unter Schmerzen hervor. »Bitte vergib mir, o Herr.«
Dutzende Filme liefen gleichzeitig vor ihrem geistigen Auge ab, als zöge ihr ganzes Leben noch einmal im Schnelldurchlauf an ihr vorbei. Ihre Kindheit im Grunewald. Der erste Kuss mit Annette. Die Schläge von Sven. Das Ultraschallbild ihres ungeborenen Kindes, das für andere noch unsichtbar, für sie aber längst Teil ihres Lebens war. Und ihre Eltern, zu denen sie nach jahrelangen Familienstreitigkeiten inzwischen wieder ein gutes Verhältnis aufgebaut hatte.
Die Erinnerungen waren sehr lebendig, und doch erschien ihr in diesem Moment alles unendlich weit entfernt. Mit angstvoll geweiteten Augen starrte sie auf die Kunststoffschale, die vor ihr auf dem Tisch stand. Sie war bis zum Rand gefüllt mit hochgradig ätzender Säure. Die giftigen Dämpfe brannten ihr in Augen und Nase und benebelten ihre Sinne. Endlose Sekunden vergingen, und einen Moment lang wusste sie nicht, was schlimmer war: dass ihr das eigene Gesicht als Spiegelbild aus der grünlichen Flüssigkeit entgegensah oder dass sie dieses Gesicht nun zum letzten Mal sehen sollte.
Tränen rannen ihr über die Wangen, als sie zur Stuhlkante vorrutschte und mit zitternden Händen die Schale umfasste. Urin rann an ihren Beinen hinunter, und sie zitterte jetzt so stark, dass ihr beim Anheben der Schale ein wenig von der ätzenden Flüssigkeit über die linke Hand schwappte. Sie stieß einen gellenden Schrei aus und setzte die Schale rasch ab, dennoch fraß sich die Säure in Sekundenschnelle bis auf den Knochen in ihr Fleisch.
Ihr wurde schlecht vor Schmerz, und es dauerte eine Weile, bis sie in der Lage war, einen neuen Versuch zu wagen. Doch ihr würde keine andere Wahl bleiben. Ein letzter Blick zum Kruzifix, das neben Bildern aus glücklicheren Tagen an der Wand hing, dann nahm sie all ihren Mut zusammen und konzentrierte sich. Vorsichtig umfasste sie die Schale und verdrängte den Schmerz in ihrer linken Hand, der nichts gegen das war, was gleich kommen würde. Dann hob sie das Gefäß behutsam mit beiden Händen an. Langsam, ganz langsam, führte sie die Schale zum Gesicht, hob sie weiter an und legte den Kopf in den Nacken. Und tat, was sie tun musste.
Sekunden später drangen markerschütternde Schreie aus der Wohnung, die im ganzen Haus zu hören waren.
1
Berlin-Friedrichshain, Boxhagener Straße …
Die rötliche Abendsonne schien durch das Küchenfenster, und im Radio wurde heftig über die für Ende Mai ungewöhnlich hohen Temperaturen debattiert. Lena Peters stand in Jeans, schwarzem Top und einem türkisfarbenen Seidenschal am Esstisch und sah die Post durch. Wie sooft in letzter Zeit verspürte sie dabei eine vertraute Beklemmung, die nicht von ungefähr kam.
Kaum fünf Tage waren vergangen, seit sie ihren ersten großen Fall gelöst hatte, und ebenso lang war es her, seit ihr das in schwarzes Leder eingeschlagene Notizbuch zugesandt worden war. Sie hatte es
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