Die Mondspielerin: Roman (German Edition)
zum Sonnenuntergang am Meer zu sein, und konnte zusammen mit der Sonne darin schlafen gehen?
Bis auf das Summen der Insekten, der Ansprache eines Finken, einem verlegenen Knacken und dem wiegenden Blätterrauschen war nichts zu hören. Nichts. Ihre Schritte waren die einzigen menschlichen Geräusche auf dem gewundenen Waldweg entlang des Aven, der sich auf Schulterbreite verschmälert hatte. Wie ein immer länger werdender Flur zu einem unbekannten Zimmer.
Überall blühte der rote Fingerhut. Digitalis. Die Arznei, die das Herz zum Stillstand bringen konnte.
Vielleicht sollte ich sie einfach abkauen, dachte Marianne. Aber dann dachte sie an die Kinder. Kein Kind sollte eine Tote im Gestrüpp finden müssen.
Sie passierte alte hohe Bäume, die nur wenig Tageslicht auf den Weg brechen ließen, durchsetzt von grünem Nebel. Nach einer Anhöhe gelangte Marianne an eine schmale Straße; sie führte über eine steinerne Brücke, schnurgerade über einen trockenen Flussarm gespannt, in der Mitte thronte ein Haus ohne Fenster. Moulin à marée.
Es begann zu regnen, obgleich noch die Sonne schien, das Wasser brachte die Luft zum Funkeln.
Sie stellte sich vor, dass der goldene Schimmer jener Schleier war, der die Dieswelt von der Anderswelt trennte. Auf der Mitte der Brücke hob Marianne die Hand und schob sie durch den Schleier. Der Regen war ganz weich, ganz warm. Sie stellte sich vor, wie Feen und Riesen über diese Brücke an ihr vorübergingen und darüber lachten, dass sie eine Hand in die Totenwelt gesteckt hatte.
Sie hatte nicht gewusst, dass die Welt so bezaubernd und so wild sein konnte. Keine Hochhäuser. Keine Neubauten. Keine Autobahnen. Sondern Vögel, die ihre Nester in Palmen bauten, Glyzinien, Pfingstrosen, Mimosen, die Felsen umwucherten. Es gab den Himmel, die Steine und andere Welten jenseits goldener Regenfälle.
Solch ein Land muss die Menschen formen, dachte Marianne, nicht andersherum; es muss sie stolz und hartnäckig machen, leidenschaftlich und dennoch scheu, es formt sie wie Steine und Stämme.
Marianne lief, und die menschenfreie Leere zerrte an ihren Gliedern. Ihr war, als vernehme sie ein Wispern aus den Tiefen des Waldes; sie dachte an Clara und dass dieses Land nur jenem seine Geschichte erzählen würde, der bereit war, sie zu hören. Marianne lauschte, doch sie konnte nicht verstehen, was Wind und Gras, Bäume und Granitfelsen ihr zu sagen hatten.
Der Regen hörte auf, als sie aus dem Wald hinaustrat, und der sentier 34 neben einem schmutzigen Flaschencontainer endete, direkt auf einem kleinen Parkplatz mit hellgelbem Kies.
Sie blickte sich um. Eine Straße ohne Mittelstreifen, goldgelbe Felder. Links schien sich das Dorf zu verdichten.
Marianne fühlte sich betäubt von so viel frischer Luft und dem Laufen. Die aufkommende leichte Brise roch wie kurz vor einem Gewitter, magnetisiert und staubig. Mariannes Knie pochte. Sie ging vorbei an Hortensien in allen Farben, sie ignorierte sie, genauso wie die chaumières, die bretonischen Sandsteinhäuser mit den bunten Fensterläden, die Gärten mit blühenden Feigenbäumen, duftendem Oleander und im Wind wisperndem Seegras.
Sie folgte allein der schmalen Dorfstraße.
Am Ende einer kleinen Anhöhe vollführte sie eine Linksschleife um ein weißes, dreistöckiges Haus herum – und dann war Marianne auf einmal da, an einem stillen Sonntag im Juni.
Am Hafen von Kerdruc.
9
D er Hafen von Kerdruc bestand aus einem rechteckigen Quai, einer Mole, die in den Aven hineinreichte, und einer weiteren, die sich am Ufer des Aven flussaufwärts zog. Auf ihr kuschelten sich Ruderboote stehend aneinander wie farbige Löffel in einer Besteckschublade. An den Flusshängen schmiegten sich vereinzelt reetgedeckte chaumières wie weiße Blüten in das satte Grün der Kiefern und Seegraswiesen. Dutzende Sportschiffe, aufgereiht an einem Ankerseil zwischen roten Schwimmbojen, schwangen sich wie weiße Mondsteine an einer Folklorekette die Mündung des Aven hinab. Sie tanzten mit der salzigen Flut, die in die süßen Wasser des Flusses eindrang.
Dort, wo sich Wasser und Himmel, Blau und Gold, sanfte Wälder und schroffe Kliffe trafen, begann das Meer.
Das Restaurant am Fuß des weißen, dreistöckigen Hauses, das Ar Mor, besaß eine Holzterrasse mit rotweißer Markise und eine blaue Holzpforte. Die Pension daneben, die Auberge d’Ar Mor, war ein romantischer, verwitterter Granitbau, dessen Eingangsfoyer von Laub und verblühten Hortensien zugewuchert
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