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Die Monster von Templeton

Die Monster von Templeton

Titel: Die Monster von Templeton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Groff
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schaffte es gerade noch, bis zum Fuß der Treppe zu gelangen und mich hinzusetzen, dann war die Freude gänzlich aus meinen Gliedern gesickert. Vor mir lag der See in seinem Dunst, sanft leckte das Wasser am Ufer. Ich ließ den Kopf über die Knie hängen und schaute den sich kräuselnden Wellen zu. Es war alles falsch, von vorne bis hinten.
    Falsch: der stämmige Frank Phinney mit seinen dicken Daumen und seinen Segelohren, in dem ich nichts von mir wiedererkennen konnte, außer einer vagen Ähnlichkeit ums Kinn herum. Und selbst wenn er mein Vater wäre, war es doch ebenso falsch, einfach diese Dynamitstange – mich – in sein Leben zu werfen. Seine Frau Linda, die sowieso schon eine scharfe Zunge hatte, würde diese erst recht an ihm wetzen, ich würde seine halbwüchsigen Kinder in Verwirrung stürzen, würde diesen armen Mann, dessen tägliche Existenz sowieso schon von Schuldgefühlen zerfressen war, noch unendlich viel mehr mit Schuld beladen. Ich würde sein Leben noch komplizierter machen. Unsere Freundschaft würde auf eine harte Probe gestellt, und ich würde etwas zerstören, das doch so einfach und schön gewesen war.
    So euphorisch ich vor ein paar Minuten gewesen war, jetzt fühlte ich mich nur noch leer, wie eine braune Tüte aus dem Supermarkt, die zum Spielball des Windes wird. Ich warf einen Stock in den See, der kurz auf der Oberfläche schaukelte, bevor er unterging. Mir war übel. Ich konnte nicht nach Hause gehen.
    Ich hatte vielleicht fünf Minuten dort gesessen und im eigenen Saft geschmort, als mein Blick auf ein Paar große braune Stiefel fiel, die linker Hand auf mich zu stapften. Erst als sie anderthalb Meter von mir entfernt waren, erkannte ich sie und blickte erstaunt an den schwarzen Jeans hoch, zu dem Gürtel, der bis zum letzten Loch zugeschnürt war, dem blauhäherblauen Hemd. Einen Augenblick lang ruhten meine Augen auf dem Buch in der großen, abgearbeiteten Hand, einem Hochglanztaschenbuch mit dem Titel
Das Gesamtwerk Spinozas.
Lange betrachtete ich das Buch, bis ich mich endlich dazu durchringen konnte, über den obersten Hemdenknopf hinaus zu schauen, diesen pulsierenden Hals hoch, bis zu diesem Kinn, diesem Gesicht.
    «Zeke», sagte ich, und eine träge Wärme breitete sich in mir aus und verbannte einen Moment lang die neu erwachsene Traurigkeit in mir.
    «Schön, dich zu sehen.»
    «Ich …», sagte er. «Äh …», und einen Moment lang hatte es den Anschein, als könnte er nicht weiterreden. Schließlich lief er rot an, schob das Buch in seine hintere Hosentasche und sagte, während er neben mir Platz nahm: «Dieses Kleid da gefällt mir total, Willie, wirklich. Gelb. Das ist schön. Ich hab frei heute. Vor einer Stunde hab ich gesehen, wie du das Haus verlassen hast, und hab darauf gewartet, dass du zurückkommst.»
    «Wirklich?», sagte ich und versuchte zu lächeln, aber meine Zähne fühlten sich an der Luft an wie elektrisch aufgeladen. «Wozu das denn?»
    «Mittagessen zum Beispiel?», sagte er und wurde noch röter. Er schaute weg.
    «Hm», sagte ich und ließ die Sekunden zwischen uns sich ansammeln und eine Lake bilden. Langsam kehrte die Welt um uns herum zurück: die Möwen, die eine Boje umkreisten, der Verkehr hinter uns auf der Main Street, der Susquehanna, der über sein moosbewachsenes Flussbett rauschte. Und urplötzlich war der Tag, der so trostlos begonnen hatte, nur durch ein leuchtend gelbes Kleid und diesen Zeke da neben mir zu etwas ganz Leichtem, Hungrigem geworden. Ein Auto hupte; ich fuhr erschrocken zusammen, es überlief mich heiß, und Zeke lächelte, zeigte sein Grübchen. Ich betrachtete es und sagte zu meiner eigenen Überraschung: «Komm mit.»
    Im Rückblick gesehen, wusste ich, was ich da tat. Damals jedoch war es so, als würde ich mir selber nur dabei zuschauen. Ich nahm Zeke an der Hand, und indem ich diese Hand hielt, verfrachtete ich alles andere zurück ins Dunkel und ließ mich alles vergessen außer den harten Schwielen auf seiner Haut, ihrer Wärme.
    Und so überquerten Ezekiel und ich die Main Street, den Fluss und gingen an dem Tor vorbei bis zu dem unbefestigten Flussufer zwischen der Stadt und dem Krankenhaus. Hier blühten ein paar späte Blumen, weiße und gelbe Stiele an den Büschen, die einen würzigen Duft verströmten, und ich spürte beim Gehen jedes einzelne Härchenunter meinen Kleidern, fühlte jeden Riss in der Erde unter meinen Füßen. Wir umrundeten eine Ecke, wo jetzt die alte Steinbrücke über den

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