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Die Monster von Templeton

Die Monster von Templeton

Titel: Die Monster von Templeton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Groff
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Bauch war es nicht, wo ich bis vor Kurzem noch das Klümpchen vermutet hatte. Es saß höher, in dem Muskel zwischen meiner Schulter und der Kehle, als hätte ich da ein zweites Herz, eines, das einem Menschen gehörte, der größer war als ich. Ich wollte es mit den Händen berühren, konnte aber nicht. Meine Füße bewegten sich nicht mehr; mein Kopf bewegte sich nicht mehr. Ich musste die Augen zusammenkneifen, um nach unten zu spähen, und sah, wie da, über meinem Kleid, eine Art ätherisches Gewebe war, das sich kaum spürbar im Wind bewegte wie Spinnweben. Auf meinen Armen war ein weiteres dunkles Gewebe, das flatterte.
    Meine Beine bewegten sich ohne mein Zutun, und ich sah mit Entsetzen, wie sie die Treppe hochstiegen. Fuß über Fuß setzte ich, so unbeholfen, als hätte das, was da in mir war, das Laufen verlernt. Ich spürte die Blicke meiner Vorfahren auf mir ruhen, von all jenen Bildern. Als ich am Gästebadezimmer vorbeikam, erhaschte ich einen Blick auf mich selbst und sah, dass meine Züge ganz dunkel und verschleiert waren. Da wusste ich, dass es mein guter Geist war, der zurückhaltende Wächter über mein Leben, der mich einhüllte. Ich war zum Dotter in einem Ei geworden; ein einziger menschlicher Knochen warich geworden, mein Körper war das Mark, den der Geist umhüllte, so fest wie Fleisch.
    Und so gelangten wir in mein Schlafzimmer und nahmen ein zufällig dort liegendes kleines Buch von meinem Bett auf. Meine fremden Hände blätterten flink wie ein Kolibri durch die Seiten, hielten schließlich inne. Ein Finger fuhr die Seite herunter, bis er bei einem Wort hängen blieb. Und dann kratzte meine geisterhafte Fingerspitze so lange an dem Wort, bis ich es laut aussprach.
    Pferd,
sagte ich in den feuchtwarmen Morgen hinein, gedämpft, als hätte ich Watte in den Ohren.
    Pferd,
tippte der Geist wieder.
    Pferd.
Jetzt hörte er auf zu tippen.
    Ich verstehe nicht,
sagte ich.
    Da stieß der andere einen geisterhaften Seufzer der Frustration aus, obwohl ich sowieso schon das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen. Das Buch fiel aufs Bett. Wieder raus aus der Tür, die Treppe runter. In die Diele, in den Salon, ins Esszimmer mit seinen großen Erkerfenstern, die den See einrahmten wie auf einem düsteren Porträt des Hudson River, bei dem der feuchte graue Wind das leise Flüstern von romantischen Picknicks herüberträgt.
    Auf den Esszimmertisch ging ich zu, ohne es zu wollen, und dort nahm ich unbeholfen das kleine, mit Fell bezogene Pferdchen auf seinen vier alten Rädern in die Hand. Ich trug es hinüber zum glänzend polierten Esstisch und stellte es ab. Eine Weile stand ich so da, die Hände in die Hüften gestützt, und sagte schließlich, gedämpft:
Ja. Ein Pferd.
    Das war der Moment, als der Geist um mich herum einen Schritt vorwärts machte und damit anfing, es in seine Teile zu zerlegen.
    Halt!,
sagte ich, als er begann, die kleine Blechschließe am Sattel zu lösen und ihn abzunehmen. Er hörte nicht auf. Meine eigenen, ungeschickten, fremden Finger bohrten sich in das Leder unter dem Sattelknauf und drückten es auseinander. Und da, in der klaffenden altenWunde im Sattel, steckte ein winziges Stückchen Pergament, ganz mürbe. Als ich es herauszog, verschwand der Geist plötzlich unter einem großen Knall, und ich schnappte nach Luft und keuchte, bis ich die Luft in meinen Lungenspitzen brennen spürte. Das Papier war so zart, dass ich es so vorsichtig hielt wie ein Blütenblatt, das ich nicht zerdrücken wollte. Der Geist bewegte sich nach außen und war jetzt wieder im Zimmer. Ich schloss die Augen, bis er durch meine Wimpern hindurch noch kleiner erschien, doch diese Taktik funktionierte nicht: Noch immer drängte sich der Geist purpurrot herein.
    Schließlich atmete ich wieder normal, ich setzte mich und blickte immer noch auf das Papier, das in meiner Hand lag und sanft in einer kleinen Brise flatterte. Es war mürbe und sah so aus, als würde es zerfallen, kaum dass ich es berührte. Und obwohl es kaum mehr als ein kleiner Schnipsel war, hatte es das Gewicht von Blei.
    Bevor ich den Brief öffnete, schaute ich so schnell auf, dass ich gerade noch den letzten dünnen Zipfel des Geistes erhaschen und genauer betrachten konnte. Er wand sich und schaukelte auf ölbedeckten Wellen, als wollte er sich selbst aus meinem Sichtfeld schrauben. «Wer bist du?», fragte ich, doch der Geist gab keine Antwort, sondern wurde stattdessen ganz dunkel vor Ungeduld und nahm schließlich ein

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